14.12.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 144 / Tagesordnungspunkt 16

Jan DierenSPD - Änderung des Nachweisgesetzes

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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete in den demokratischen Fraktionen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir schließen ständig Verträge ab, praktisch jeden Tag: morgens beim Bäcker, wenn wir Brötchen holen, wenn wir Urlaub buchen, online Klamotten bestellen, ein Abo fürs Fitnessstudio oder für den Streamingdienst abschließen. Das alles sind Verträge, und meistens sind wir ganz froh, dass wir dabei nicht jedes Mal mehrere Seiten Papier ausdrucken und unterschreiben müssen. Man stelle sich mal vor, wir würden zur Tüte Brötchen noch einen mehrseitigen Vertrag bekommen. Aber fragen Sie sich selbst: Würden Sie auch ein Auto auf Handschlag kaufen?

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht, Herr Dieren!)

Wann schauen wir uns Verträge, die wir einmal geschlossen haben, überhaupt noch mal an? Immer dann, wenn etwas schief läuft. Wenn meine Klamotten nicht geliefert werden, will ich wissen: Wie kriege ich eigentlich mein Geld zurück? Wenn mein Auto nach ein paar Monaten kaputtgeht, dann will ich wissen: Was genau stand eigentlich im Vertrag zur Garantie? Und wenn mein Vermieter beim Auszug plötzlich möchte, dass ich die ganze Wohnung streiche, dann schaue ich im Mietvertrag nach: Was stand da eigentlich drin? Muss ich das wirklich machen?

Ähnlich ist das auch bei Arbeitsverträgen: Nach der Unterschrift fange ich erst mal an zu arbeiten, lege den Vertrag weg – wenn es gut läuft, für Jahre oder Jahrzehnte. Ich hole ihn dann wieder hervor, wenn es schwierig wird, zum Beispiel, wenn ich gekündigt werde, weil ich dann wissen will: Durfte ich eigentlich gekündigt werden? Was stand dazu im Arbeitsvertrag? In Deutschland wurden im vergangenen Jahr über 140 000 Klagen gegen Kündigungen eingereicht – 140 000 Menschen also, die alle ihren Arbeitsvertrag gesucht haben, um noch mal nachzuschauen.

Jetzt könnte man sicher einwenden: Dafür braucht es doch nicht unbedingt Papier. Das kann genauso gut verloren gehen oder zerstört werden.

(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Darum geht’s gar nicht!)

Das stimmt; das kann passieren. Aber fragen Sie sich selbst: Wissen Sie, wo Sie bei sich zu Hause den Mietvertrag suchen müssten?

(Enrico Komning [AfD]: Ja! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der AfD – Norbert Kleinwächter [AfD]: Wir sind sortiert im Gegensatz zu Ihnen! – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Unser Leben ist sortiert!)

– Ja, sehr gut. Aber wissen Sie das auch noch vom PDF mit den AGBs vom Streamingabo, das Sie abgeschlossen haben?

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Ja, natürlich! – Enrico Komning [AfD]: Digitaler Aktenschrank!)

Es gibt jetzt schon Arbeitgeber/-innen, die gerade bei prekären Beschäftigungsverhältnissen gegen das Nachweisgesetz verstoßen und keine schriftlichen Arbeitsverträge oder Nachweise vorlegen. Die elektronische Form würde es vielen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern leichter machen, das zu machen.

Jetzt muss ich sagen, Herr Oellers: Ich finde gut, dass Sie mittlerweile ergänzt haben, dass Sie nicht mehr nur die Textform wollen, sondern auch die elektronische Form. Das würde ich als einen Fortschritt betrachten.

Trotzdem macht es noch ein Unterschied, ob das in elektronischer Form kommt oder in Schriftform.

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Warum hat das dann Europa zugelassen, Herr Dieren?)

Bei einem schriftlichen Arbeitsvertrag und den Nachweisen kann ich leicht erkennen, ob ich die bekommen habe oder nicht. Bei der elektronischen Form, bei einem PDF, das ich per Mail bekomme, kann ich nicht sofort erkennen, ob da eigentlich die qualifizierte elektronische Signatur dabei ist, die für diese Form nötig ist. Das kann nicht jeder auf den ersten Blick erkennen. Wenn mir das dann Jahre später beim Arbeitsgericht auffällt – in dem Moment, wo ich gegen diese Kündigung klage –, dann schaue ich blöd aus der Wäsche, wenn ich vorher nicht darauf geachtet habe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Matthias W. Birkwald [fraktionslos] und Pascal Meiser [fraktionslos])

Deshalb, meine Damen und Herren: Niemand wird davon abgehalten, Arbeitsverträge und Nachweise über die wesentlichen Arbeitsbedingungen in elektronischer Form zu verfassen; das können Sie auch jetzt schon. Sie müssen sie nur einmal auch schriftlich vorlegen.

Das ist auch nicht nur ein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz und den Rechten von Beschäftigten. Denn das Nachweisgesetz gilt für alle Arbeitnehmer/-innen in Deutschland, für über 40 Millionen Menschen, von denen nicht alle einen Dienstlaptop haben, von denen nicht alle einen Drucker zu Hause haben, von denen nicht alle eine Cloud haben, in der sie ihre Daten vor Verlust schützen können.

(Abg. Wilfried Oellers [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Es sind also 40 Millionen Menschen, denen der schriftliche Nachweis ein Stück Sicherheit gibt, das Sie von der Union ihnen nehmen wollen. Denken Sie an die Friseurin, an Spargelstecher/-innen, an Kolleginnen und Kollegen, die jeden Tag unseren Müll einsammeln, und an viele andere mehr!

Ich muss Sie mal ganz kurz unterbrechen, Herr Abgeordneter, weil Ihre Redezeit gleich zu Ende ist. Erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der CDU/CDU-Fraktion?

Gerne.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Dieren, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen.

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Bringt’s hinter euch!)

– Frau Strack-Zimmermann, mir ist klar, dass Sie von dem Thema keine Ahnung haben, wenn ich die Bemerkung schon höre.

Aber das Gleiche, Herr Dieren, muss ich auch Ihnen sagen: Sie zeichnen gerade ein Bild, das nicht korrekt ist. Sie haben jetzt ständig über die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gesprochen. Ich darf Sie darauf hinweisen: Das hat mit dem Nachweisgesetz gar nichts zu tun. Denn die Schriftform der Kündigung ist im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Aha! – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Es geht um die Frage, ob die Kündigung ordentlich, richtig, sauber ist, ob die Fristen eingehalten sind!)

und hat mit dem Nachweisgesetz gar nichts zu tun. Es geht lediglich um Vertragsinhalte, die übermittelt werden, insbesondere – darauf wird vielleicht Frau Müller-Gemmeke gleich noch eingehen – dann, wenn es zum Beispiel Änderungen bei der betrieblichen Altersvorsorge gegeben hat. Aber das hat mit der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses überhaupt nichts zu tun. Da bleibt die Schriftform nach wie vor so, wie sie ist, selbst wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden. Ist Ihnen das bewusst?

(Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Offenbar nicht!)

Herr Oellers, vielen Dank für die Frage. – Ja, das ist mir bewusst. Sie haben recht: Die Kündigung ist vom Nachweisgesetz nicht betroffen.

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Davon reden Sie doch die ganze Zeit! – Nina Warken [CDU/CSU]: Was reden Sie dann?)

Aber was vom Nachweisgesetz betroffen ist, sind die Bedingungen, unter denen gekündigt werden kann, weil sie Teil der wesentlichen Vertragsbedingungen sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Sie sind im Nachweis schriftlich festzuhalten und mit auszuhändigen.

In dem Beispiel, das ich gerade erwähnt habe, wollen Leute in dem Moment, in dem ihnen gekündigt wird, wissen: Durfte man das eigentlich?

(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das steht im Kündigungsschutzgesetz! Mein Gott!)

So wie diejenigen, die wissen wollen, unter welchen Bedingungen Garantie gilt, wollen sie wissen: Was gilt in dem Moment, in dem mir gekündigt wurde?

(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das steht im Kündigungsschutzgesetz!)

Für all die Menschen wollen wir Schutz aufrechterhalten, und Sie wollen das nicht.

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Ich glaube, Sie sollten lieber noch mal ins Gesetz schauen, Herr Dieren!)

Sie nehmen sich eine ganz bestimmte Gruppe von Beschäftigten und machen sie zum Maßstab für alle anderen, nach dem Motto: Ich kann mit einem iPad umgehen; ich habe einen Drucker zu Hause. Wenn ich das kann, dann werden auch alle anderen schon mit der elektronischen Form umgehen können.

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Der Typ hat doch gar keine Ahnung!)

Sie gehen über Formvorschriften hinweg und mähen sie mit einem Rasenmäher weg, ohne Rücksicht auf irgendwelche Rechte und Schutzbedürfnisse von Beschäftigten.

(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Das passt eigentlich gar nicht schlecht zu einer Fraktion, deren Chef noch vor ein paar Tagen von hier vorne aus sehr deutlich gemacht hat, dass er für Klempner und all die Handwerker/-innen in diesem Land nicht viel mehr als Spott übrig hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich habe hier zusammen mit meinen Kollegen Carlo Cronenberg und Beate Müller-Gemmeke nach Wegen gesucht, das Nachweisgesetz so anzupassen, dass es diejenigen schützt, die Schutz brauchen, und denen mehr Freiheit ermöglicht, die von mehr Formfreiheit einen Nutzen haben können.

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss. – Und genau deshalb werden wir in diesem Sinn auch weiter zusammenarbeiten und Wege suchen, das Nachweisgesetz praktikabler zu entwickeln.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Carl-Julius Cronenberg [FDP] – Lachen des Abg. Stephan Stracke [CDU/CSU] – Norbert Kleinwächter [AfD]: Jetzt erklärt Ihnen mal Jürgen Pohl Arbeitsrecht!)

Der nächste Redner ist Jürgen Pohl für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7605253
Wahlperiode 20
Sitzung 144
Tagesordnungspunkt Änderung des Nachweisgesetzes
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