Friedrich MerzCDU/CSU - Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Woche jährt sich zum zweiten Mal der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Fast jeden Tag begleiten uns die schrecklichen Bilder von Tod und Zerstörung vor allem im Osten des Landes. Die Bilder, die wir sehen, dokumentieren nicht allein die Schrecken eines Krieges. Die Bilder dokumentieren die täglichen Kriegsverbrechen der russischen Armee gegen die Zivilbevölkerung – schwerste Kriegsverbrechen im Auftrag eines skrupellosen und menschenverachtenden Regimes, das heute vor allem mit dem Namen von Wladimir Putin verbunden ist.
Pünktlich zum Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz am letzten Freitag erreichte uns die Nachricht, dass der bekannteste Regimekritiker in Russland, Alexej Nawalny, in einem sibirischen Straflager sein Leben verloren hat. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann kein Zweifel daran bestehen, dass er einem politisch motivierten Mord zum Opfer gefallen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Irina Scherbakowa, Friedensnobelpreisträgerin und Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland heute natürlich auch verboten ist, beschrieb vor wenigen Tagen hier bei uns in einer Fernsehsendung die Haftbedingungen von Alexej Nawalny in einem Straflager nördlich des Polarkreises wie folgt:
„Er war in diesen drei Jahren fast 300 Tage in der Strafbarracke. ... Das muss man sich vorstellen: Das ist eine ganz enge Zelle mit einem ganz kleinen Fenster. Entweder ist es dort unglaublich heiß, ... oder es ist sehr kalt. Der Boden ist nass, die Wände sind nass. Du kannst nur auf einem Hocker sitzen, weil um 6 Uhr oder noch früher, um 5 Uhr, wecken sie dich, machen sie das Bett hoch. ... Und du hungerst noch. ... Aber das ist eine reine Folterung mit dem Hungern.“
Meine Damen und Herren, es ist geradezu schäbig – um nicht zu sagen: ähnlich menschenverachtend –, wenn sich vor diesem Hintergrund der Vorsitzende der AfD mit den Worten äußert – wörtlich –: Es sei
„unerträglich, wie die letzten Tage bereits feststeht, wer für diesen Tod verantwortlich gemacht wird. Man redet von Mord, von sonstigen Dingen, obwohl man nichts weiß, obwohl man noch nicht mal die Ermittlungen abgewartet hat.“
(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Ermittlungen? – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Also lächerlich!)
Doch, Herr Chrupalla, man weiß über dieses System Putin sehr viel.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Sie sollten nicht allen Ernstes behaupten, in diesem System gebe es so etwas wie nachvollziehbare Ermittlungen. Erlauben Sie es mir, zu sagen: Wer so redet, macht sich ganz im Sinne von Lenin zum nützlichen Idioten dieses Regimes.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Nach zwei Jahren Krieg gegen die Ukraine müssen wir uns heute auch selbst die Frage stellen: Haben wir in den letzten zwei Jahren eigentlich genug getan, um der Ukraine wirklich zu helfen, oder werden wir spätestens in einigen Jahren aus der Rückschau erneut feststellen müssen, dass wir uns geirrt haben, dass wir Putins Skrupellosigkeit und seine Kriegsmaschine erneut falsch eingeschätzt haben?
Warum sage ich „erneut“? Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich an zwei Ereignisse erinnern.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Ukraine nach Russland und den USA – die wenigsten in unserem Lande wissen das noch – die drittgrößte Atommacht der Welt. In den Jahren 1994 bis 1996 übergab die Ukraine ihr gesamtes Atomwaffenarsenal an Russland und erhielt im Gegenzug unter anderem von Russland und den USA eine Garantie ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Im Jahr 2009 bestätigten die damaligen Präsidenten von Amerika und Russland, Barack Obama und Dimitrij Medwedew, diese Sicherheitsgarantie noch einmal. Das war damals derselbe Präsident Medwedew, der heute zu den schärfsten Kriegstreibern in Russland gegen die Ukraine und die westliche Welt gehört.
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Stimmt!)
Wir wissen heute: Diese Sicherheitsgarantien Russlands für die Ukraine waren von Anfang an nichts wert. Im Gegenteil: Heute bezahlt die Ukraine ihr Vertrauen und ihre atomare Abrüstung mit dem hohen Preis eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges durch ebendieses Russland.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Friedhelm Boginski [FDP])
Gleiches, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt für die beiden Abkommen von Minsk. Zur Erinnerung: Mit diesen beiden Abkommen wurden ein Waffenstillstand, der Abzug schwerer Waffen, eine 400 Kilometer lange Sicherheitszone, die Durchführung von Wahlen und die Reintegration der Gebiete Donezk und Luhansk in das ukrainische Staatsgebiet vereinbart. Diese beiden Abkommen waren gerade einmal acht und sieben Jahre alt, als die russische Armee am 24. Februar 2022 das Land überfiel und seitdem dort diesen furchtbaren Krieg führt.
Warum muss man zwei Jahre nach dem Beginn des Krieges noch einmal an diese damaligen diplomatischen Bemühungen erinnern? Nun, meine Damen und Herren, der ernüchternde Befund ist: Putin und sein Regime halten sich an keinerlei völkerrechtliche oder sonstige Vereinbarungen. Im Gegenteil: Russland ist unter Putin zur größten Gefahr für die Freiheit und den Frieden auf unserem ganzen Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg geworden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Der traurige zweite Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine ist natürlich ein erneuter Anlass, dem ukrainischen Volk großen Respekt und hohe Anerkennung auszudrücken. Wie diese Menschen kämpfen, wie dieses Land kämpft, verdient unser aller Respekt und größte Anerkennung.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Allerdings muss der zweite Jahrestag des Krieges gegen die Ukraine auch Anlass sein, Bilanz zu ziehen. Wo stehen wir in Deutschland nach zwei Jahren Krieg? Der Bundeskanzler hat zu Recht in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 die richtigen Worte gefunden. „ Wir erleben“, so hat er gesagt, „eine Zeitenwende“, und diese Zeitenwende erfordert – so waren seine Worte –, dass wir einen grundlegenden Wandel in unserer Außen- und Sicherheitspolitik vollziehen. Ich will die Bilanz nach zwei Jahren auf einen Satz bringen: Die Zeitenwende ist ganz überwiegend ein richtiges Wort geblieben; aber zur umfassenden Tat hat es bisher jedenfalls nicht gereicht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich will das an wenigen Beispielen illustrieren. Sie haben eine Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt, die mit der Beschreibung der Lage auf halbem Weg stehen geblieben ist. Es fehlt eine an unseren Interessen und auch an unseren Werten ausgerichtete Strategie, die unsere Handlungsinstrumente benennt und im Abgleich der Interessen und der zur Verfügung stehenden Instrumente konkrete Maßnahmen beschreibt. Diese Nationale Sicherheitsstrategie haben Sie institutionell nicht abgesichert. Sie hätten im Bundeskanzleramt einen Nationalen Sicherheitsrat einrichten müssen, der im Krisenfall die operative Führung in der Außenpolitik übernimmt und alle Entscheidungsstränge – nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der Länder, der Kommunen, der sogenannten Blaulichtorganisationen – an einem Ort zusammenführt.
(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie doch mal die Ministerpräsidenten der Länder, wie die das sehen!)
Diese Entscheidung ist, wie so viele andere auch, an den Streitereien in der Koalition bisher gescheitert.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Und schließlich: Wir haben hier gemeinsam ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen. Die Zusage war: ab sofort mindestens 2 Prozent des BIP für die Bundeswehr und 100 Milliarden Euro für das Sondervermögen. Sie halten dieses 2-Prozent-Ziel heute formal ein, indem Sie sich für den laufenden Betrieb der Bundeswehr aus diesem Sondervermögen der 100 Milliarden Euro bedienen, und bleiben uns jede Antwort darauf schuldig, wie Sie denn das 2-Prozent-Ziel nach der Erschöpfung dieses Sondervermögens spätestens im Jahr 2027 in Deutschland erreichen wollen. Am schwersten wiegt: Die Ukraine erhält weiterhin nicht in vollem Umfang das Material, das sie dringend benötigt, um den russischen Angriffskrieg wirksam abzuwehren. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, ich bitte Sie alle und nicht nur einzelne – ich bitte Sie alle, sich heute unserem Antrag anzuschließen und die Bundesregierung aufzufordern, der Ukraine endlich den Marschflugkörper Taurus zu liefern.
(Beifall bei der CDU/CSU – Beatrix von Storch [AfD]: Ganz sicher nicht!)
Erlauben Sie mir, mich von dieser Stelle aus auch an diejenigen in unserem Land zu wenden, die Zweifel haben, ob denn Waffenlieferungen an die Ukraine die richtige Antwort sind. Auch wir gehen in unserer Fraktion mit dieser Frage alles andere als leichtfertig um.
(Lachen bei Abgeordneten der AfD)
Wir wissen um die Bedeutung solcher Entscheidungen. Aber gerade wir in Deutschland sollten aus unserer Geschichte wissen, dass Beschwichtigungen und Besänftigungen gegenüber einem Regime, das sich an keinerlei Regeln des internationalen Rechts mehr hält und das offenbar zu allem entschlossen ist, das Gegenteil von dem bewirken, was wir uns alle wünschen, nämlich ein Leben in Frieden und in Freiheit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Und wenn wir schon bei den Lehren aus der Geschichte sind: Erlauben Sie mir, dass ich noch einmal Irina Scherbakowa zitiere. Sie hat vor einigen Wochen hier in Deutschland geschrieben:
„Die Geschichte ist keine Lehrerin, keine magistra vitae – sie lehrt nicht, aber sie bestraft hart für nicht gemachte Hausaufgaben.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Notwendigkeit einer Zeitenwende gemeinsam wirklich ernst nehmen, wenn wir diesen Auftrag, den der Bundeskanzler am 27. Februar 2022 von diesem Pult aus formuliert hat, ernst nehmen, dann haben wir den größten Teil der Hausaufgaben für unser Land noch vor uns.
Herzlichen Dank.
(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU)
Der nächste Redner ist Dr. Ralf Stegner für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 154 |
Tagesordnungspunkt | Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik |