23.02.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 155 / Tagesordnungspunkt 6

Michael MüllerSPD - Enquete-Bericht - Lehren aus Afghanistan-Engagement

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum ersten Mal hat der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission zu einem außen- und sicherheitspolitischen Thema eingesetzt. Wir müssen festhalten: Kein Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik war umfangreicher, teurer und verlustreicher als das 20 Jahre dauernde Engagement in Afghanistan. Trotzdem ist nach dem Abzug vor zweieinhalb Jahren und der erneuten Machtübernahme der Taliban klar, dass Deutschland und seine Partner mit den Zielen und Vorstellungen für ein langfristig stabiles Afghanistan strategisch gescheitert sind. Diese klare Feststellung ist bitter, aber notwendig und, wenn wir an die Bilder vom Flughafen in Kabul 2021 zurückdenken, nicht überraschend.

Die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan“ hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren intensiv mit den Gründen für dieses Scheitern auseinandergesetzt. Es gab 11 öffentliche Anhörungen, 45 Sitzungen von Projektgruppen, bei denen mehr als 50 Sachverständige aus 8 verschiedenen Ländern befragt wurden. Die mehr als 300 Seiten umfassende Berichterstattung, die wir Ihnen heute vorlegen, ist das Ergebnis dieser intensiven Arbeit. Dieser Zwischenbericht wirft ein kritisches, aber differenziertes Bild auf die deutsche Rolle in Afghanistan. Auf drei Aspekte möchte ich besonders eingehen:

Zunächst möchte ich den Ausgangspunkt für unsere Beteiligung in Erinnerung rufen. Als der Bundestag die Beteiligung am Einsatz in Afghanistan beschloss, war die Wiedervereinigung gerade ein Jahrzehnt alt, und die US-dominierte Weltordnung befand sich auf ihrem Höhepunkt. Nach dem weltweiten Schock der Anschläge vom 11. September sprach Bundeskanzler Schröder selbstverständlich den USA die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands aus. Die Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Centers haben sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt und markierten 2001 eben auch eine Zeitenwende. Nicht nur der Druck in der NATO durch Bushs „Entweder ihr seid für uns oder gegen uns“ ließ wenig Spielraum und Vorbereitungszeit, auch die konkrete Bedrohung durch Anschläge machte ein Handeln erforderlich. Ich erinnere an die Anschläge in Madrid, Paris, London, vereitelte Versuche in Deutschland und schließlich den Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz.

(Johannes Schraps [SPD]: Sehr richtig!)

All das hat uns die Bedrohung durch islamistische Gruppierungen immer wieder schmerzlich vor Augen geführt.

In Afghanistan ging es bald aber um mehr, als den Terror zu bekämpfen. Gemeinsam mit unseren Partnern sollte ein Staatsaufbau nach westlichem Vorbild organisiert werden. Für eine solche Transformation von Staat und Gesellschaft fehlte es in der internationalen Gemeinschaft an einer langfristigen und realistisch umsetzbaren Strategie und den nötigen Ressourcen. Die dafür notwendige Auseinandersetzung mit Kultur, Geschichte, Tradition Afghanistans hat nicht in notwendigem Maße stattgefunden. Wir haben das Land und seine Entscheidungsstrukturen nie richtig verstanden, möglicherweise bis heute nicht. Wir haben uns zu stark auf die großen Städte und die dortigen Eliten konzentriert. Traditionelle Hierarchien und Sozialstrukturen, regionale Besonderheiten und lokale Machtverhältnisse haben zu wenig Berücksichtigung gefunden.

Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, ist der Umgang mit Kritik und der Warnung vor Fehlentwicklungen; denn die gab es. Als 2008 der damalige SPD-Vorsitzende Beck empfahl, über Gespräche mit moderaten Taliban nachzudenken, wurde er mit Kritik und Hohn überzogen. Heute wissen wir, dass die Rolle und der zunehmende Einfluss der Taliban und ihr Rückhalt in der afghanischen Gesellschaft unterschätzt wurden und die Ausgrenzung vom politischen Prozess wohl ein Fehler war; in einer Anhörung formulierte es ein Sachverständiger gar als Ursünde. Ähnlich verhält es sich mit Warnungen zur Ausrüstung der Bundeswehr, zu dem Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Ressourcen oder der Kritik am Vorgehen des US-Militärs bei der Terrorbekämpfung. Daraus müssen wir lernen.

Wir müssen in Zukunft bereit sein, früher auf Kritik und Fehlentwicklungen zu reagieren. Dazu braucht es insbesondere ein realistisches, ressortübergreifendes Gesamtbild, gerade für das Parlament, das über die Einsätze entscheidet.

Schließlich möchte ich festhalten, dass trotz der kritischen Bestandsaufnahme auch Erfolge durch unser Engagement festgestellt wurden. Zwei Jahrzehnte konnten Afghaninnen und Afghanen etwas Positives erleben. Die Kindersterblichkeit wurde deutlich reduziert, zahlreiche Frauen und Mädchen hatten Zugang zu Bildung, und die Infrastruktur des Landes wurde massiv verbessert. Krankenhäuser, Straßen, Energie- und Wasserversorgung sind nach der Machtübernahme der Taliban ja nicht verschwunden. Vor allem aber bleibt das Erleben von Freiheiten, gerade für Frauen und Mädchen, und das, meine Damen und Herren, war nicht sinnlos, war nicht umsonst.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Aus Perspektive der deutschen Außenpolitik lässt sich festhalten: Deutschland hat sich als verlässlicher Verbündeter gezeigt, und zum Beispiel mit der Ausrichtung der Petersberger Konferenzen auch als aktiver, international sichtbarer diplomatischer Akteur.

Unser Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt den deutschen Soldatinnen und Soldaten, Polizistinnen und Polizisten sowie zivilen Einsatzkräften, die ihren Dienst geleistet und zum Teil große Opfer gebracht haben. Unvergessen bleiben natürlich die Gefallenen und Verwundeten.

Meine Damen und Herren, aus Erfahrungen, identifizierten Fehlern und Teilerfolgen erwächst die Verantwortung, es in Zukunft besser zu machen. Die Rolle Deutschlands ist heute eine andere als 2001. Die Weltlage ist eine andere. Von uns als größter Volkswirtschaft Europas und international respektiertem Akteur wird zu Recht erwartet, dass wir uns diplomatisch, humanitär, entwicklungspolitisch und auch militärisch engagieren.

Das Zeitalter wachsender Multipolarität wird instabiler und krisenanfälliger sein. Umso wichtiger ist es, darauf vorbereitet zu sein und, lernend aus den Erfahrungen der Vergangenheit, sich entlang eigener Interessen und an Werten orientiert zu positionieren. Der vernetzte Ansatz muss das Grundprinzip des deutschen Engagements im internationalen Krisen- und Konfliktmanagement bleiben. Was für konkrete Änderungen notwendig sind, um das hier in Berlin genauso wie im Einsatzgebiet deutlich besser als in Afghanistan umzusetzen, werden wir nun in der zweiten Phase der Kommissionsarbeit definieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich mich für die konstruktive Zusammenarbeit in der Kommission bei den Abgeordneten und insbesondere den Sachverständigen, von denen einige heute anwesend sind, bedanken. Wir sind auf diese Expertise angewiesen; denn die Rolle Deutschlands in diesen schwierigen Zeiten zu definieren und weiterzuentwickeln, ist eine Aufgabe, die die Politik nicht allein bewerkstelligen kann. Wir werden in Zukunft international wohl mehr gefordert sein. Aus Afghanistan lernen muss unser gemeinsamer Anspruch sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7607668
Wahlperiode 20
Sitzung 155
Tagesordnungspunkt Enquete-Bericht - Lehren aus Afghanistan-Engagement
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