23.02.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 155 / Tagesordnungspunkt 6

Derya Türk-NachbaurSPD - Enquete-Bericht - Lehren aus Afghanistan-Engagement

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man sagt, es gibt Momente in der Geschichte, die wie Scheidewege sind. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist ein solcher Moment, wo es nachher nicht mehr so ist wie vorher, genau wie es der 11. September 2001 in der Geschichte war. In der Folge von den Anschlägen des 11. September sahen wir den längsten, härtesten und leider auch verlustreichsten Einsatz der Bundeswehr in unserer aktuellen Geschichte.

Heute, in einer Zeit, die nach aufrichtiger Selbstreflexion verlangt, steht die Enquete-Kommission sinnbildlich für einen Wendepunkt in Sachen Selbstkritik. Der internationale Einsatz in Afghanistan, der im Jahr 2001 begann, zielte ursprünglich darauf ab, die Taliban zu entmachten, die Al-Qaida-Strukturen zu zerstören und ein stabiles, demokratisches Regierungssystem zu etablieren. Über die Jahre hinweg waren zahlreiche Länder unter der Führung der NATO und der Vereinigten Staaten in unterschiedlichen Kapazitäten beteiligt, darunter auch Deutschland, das sich mit militärischen und auch zivilen Beiträgen engagierte.

2001, zu Beginn des internationalen Engagements, standen die Voraussetzungen für die Herausbildung demokratischer Verhältnisse in Afghanistan gar nicht einmal schlecht. Mit großem Enthusiasmus beteiligten sich die Afghaninnen und Afghanen an der Loya Jirga und stimmten für eine neue Verfassung. Eine Loya Jirga ist eine Versammlung, die für die Beratung und Entscheidungsfindung bei zentralen Themen oder für die Diskussion von Friedensabkommen oder für die Bestätigung einer neuen Regierung einberufen wird. Sie wurzelt tief in der afghanischen Kultur und Geschichte und symbolisiert auch das Streben nach Konsens und nationaler Einheit. Vor allem spiegelt sie auch die komplexe Struktur Afghanistans wider, in der Stammes- und Gemeinschaftsloyalitäten eine ganz besondere Rolle spielten.

Einige afghanische Stimmen erzählten, dass der Moment, in dem ihr Traum von Demokratie an seine Grenzen geriet, der war, als der ehemalige US-Botschafter und die UN an den Tisch für ein neues Afghanistan neben den gewählten Delegierten in der Loya Jirga auch zahlreiche Warlords platzierten,

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Eine Überraschung!)

Warlords, die sich zuvor bei Kriegsverbrechen beteiligt hatten, Warlords, die leider auch nicht entwaffnet worden sind. Die Afghaninnen und Afghanen hatten den Eindruck, dass der Westen den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte. Diese soziokulturelle Komplexität in Afghanistan haben wir nicht ausreichend berücksichtigt. Das war ein Fehler.

Es gibt ein afghanisches Sprichwort, das sagt: Ohne die Tiefe des Wassers zu kennen, zieh deine Stiefel nicht aus! – Wir haben die Stiefel ausgezogen. Und von Willy Brandt kam der Satz: Näher bei den Menschen! – Mit Blick auf unsere Arbeit in der Enquete-Kommission müssen wir leider feststellen, dass es an der Nähe zu den Menschen in Afghanistan zum Teil gemangelt hat. Es sind die Menschen vor Ort, die ihr Land und die zugrundeliegenden Konflikte am besten kennen. Sie sagen, was sie brauchen.

Das bedeutet unter dem Strich, dass wir die Bevölkerung von Anfang an hätten besser einbinden müssen. Mit den von der lokalen Bevölkerung akzeptierten Meinungsführern wurde nicht geredet; das haben wir heute schon gehört. Man hätte, so die Auffassung vieler Expertinnen und Experten heute, auch mit den gemäßigten Taliban reden sollen. Die hatten sich ja nicht in Luft aufgelöst; die waren nicht einfach weg. Diese lokalen Meinungsführer hatten Macht. Sie entschieden über die Akzeptanz oder Ablehnung der durchgeführten Maßnahmen, um demokratische, rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen.

In einer der Anhörungen beschrieb Lakhdar Brahimi, der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, die Wahrnehmung der Afghanen folgendermaßen – das ist bei mir hängen geblieben; ich zitiere –: Wie im Taxi saßen die Afghanen am Steuer; aber die internationale Gemeinschaft war der Gast, der entschied, wo es hinging. – Die Menschen vor Ort wissen doch am besten, was sie eigenständig leisten können, auch ohne Hilfe – etwa wenn wir mal abgezogen sind. Genau darum sollte es gehen, ganz gleich, wo wir zu Gast sind: ihr Land, ihre Ideen, unsere Unterstützung. Nur so kann es mit der Eigenverantwortung klappen.

Wer heute auf Afghanistan blickt, mag sich fragen, was von unseren Fortschritten geblieben ist. Es ist uns nicht gelungen, alle nachhaltig zu verankern. Doch dort, wo es Erfolge gab, lag das Geheimnis in der Einbindung der lokalen Bevölkerung. Dort, wo wir den Afghaninnen und Afghanen die Möglichkeit gaben, aus eigener Kraft Veränderungen vorzunehmen, blühte unser Engagement auf. Der Einsatz für Minderheiten, Bildung – wir haben es gesagt –, die Stärkung von Frauenrechten, die Gesundheitsversorgung – all das war erfolgreich. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ging zurück.

Eine Gruppe von beeindruckenden Frauen, die der Minderheit der Hazara angehören, haben mir im Gespräch erzählt, dass sie nur dank des internationalen Einsatzes ihre Lebenswege so erfolgreich haben gestalten können. Sie sind jetzt hier in Sicherheit und machen sich große Sorgen um diejenigen, die leider zurückgeblieben sind. Doch sie bestätigen mir: Die Investition in die Köpfe ist geblieben. Eine Generation von selbstbewussten Frauen ist geblieben – vieles andere leider nicht. Mühsam erarbeitete Erfolge wurden in kürzester Zeit zunichtegemacht.

Wir wollten Stabilität erreichen. In Afghanistan wurde die gewünschte Stabilität nicht erreicht. Diese Instabilität hat viele Menschenleben gekostet: das vieler deutscher Soldatinnen und Soldaten, Bundespolizisten, ziviler Einsatzkräfte. Doch auch viele afghanische Menschen fielen diesem Krieg, diesem Einsatz zum Opfer: Über 176 000 Afghaninnen und Afghanen, davon über 50 000 Zivilisten, sind gestorben. Deshalb ist es mir wichtig, hier zu betonen: Dieser Einsatz war nicht umsonst. Wir danken ihnen und euch für diesen Einsatz!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die haben ihren Job sehr gut gemacht.

Für die nächsten Einsätze muss klar sein: Es sind grundsätzlich unterschiedliche Mandate, die Militärs und Hilfsorganisationen ausüben: Militärs gründen sich qua Verfassung auf einem territorialen Sicherheitsbegriff, während die Entwicklungszusammenarbeit der Verwirklichung universeller Menschenrechte dient. Diese Mandate dürfen nicht miteinander vermengt werden, obwohl sie nicht getrennt voneinander zu betrachten sind und ihre Wirkung erst entfalten, wenn es eine gemeinsame Strategie der Diplomatie, des Militärs und der Entwicklungszusammenarbeit gibt.

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Ich danke allen Sachverständigen, allen Expertinnen und Experten sowie allen Menschen, die uns dabei geholfen haben, diesen Bericht zu verfassen. Bei der Einsetzung der Enquete-Kommission habe ich gesagt: Die Enquete ist das Team Wissenschaft – das Team, das Wissen schafft. Und das Team Wissenschaft sitzt heute auf der Tribüne. Ich freue mich auf die Arbeit mit Ihnen in der Phase zwei.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Als Nächster hat das Wort für die AfD-Fraktion Joachim Wundrak.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7607680
Wahlperiode 20
Sitzung 155
Tagesordnungspunkt Enquete-Bericht - Lehren aus Afghanistan-Engagement
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta