Philipp HartewigFDP - Aktuelle Stunde - Schutz der Meinungsfreiheit vor staatlichen Übergriffen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist und bleibt es etwas Besonderes, in einer Demokratie hier im Reichstag zum Thema Meinungsfreiheit zu sprechen – gerade vor dem Hintergrund, dass sowohl meine Eltern als auch meine Großeltern jeweils in einer Diktatur aufgewachsen sind, gerade vor dem Hintergrund, dass weltweit weniger als die Hälfte der Länder Demokratien mit einer umfassend gewährten Meinungsfreiheit sind.
Meinungsfreiheit ist das Kernstück politischer und geistiger Freiheit. Sie ist unentbehrliches und grundlegendes Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens. Oder wie das Bundesverfassungsgericht schon sehr früh zutreffend gesagt hat: Sie ist „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit“ und „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“, welches „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung … konstituierend“ ist; denn sie erst ermöglicht „die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen“ als „Lebenselement“ dieser Staatsform. Also ganz kurz: Die Meinungsfreiheit belebt und trägt unseren demokratischen Rechtsstaat.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Umso sensibler müssen wir dafür sein, wenn bei einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung der Eindruck entsteht, man könne nicht mehr sagen, was man denkt. Nach einer Umfrage vom Allensbach-Institut sind 48 Prozent der Deutschen der Auffassung, man müsse bei Meinungsäußerungen vorsichtig sein. Nur 32 Prozent waren der Überzeugung, man könne ganz frei seine Meinung kundtun.
Dabei ist der Schutzbereich von Artikel 5 Grundgesetz grundsätzlich weit. Er erstreckt sich auf Äußerungen ohne Rücksicht darauf, ob sie sachlich fundiert oder oberflächlich sind, ob sie von werbenden oder altruistischen Interessen geleitet werden oder ob sie moralisch hochstehend oder egoistisch sind. Der Inhalt einer Äußerung spielt also grundsätzlich keine Rolle, und es soll gerade dadurch deren Vielfalt geschützt werden.
Aber Meinungsfreiheit – das wurde auch erwähnt – ist kein Freifahrtschein. Und auch unser Rechtsstaat versteht es natürlich, hier Grenzen zu ziehen. § 130 StGB wurde angesprochen, auch die Beleidigung nach § 185 StGB kann man beispielsweise nennen.
Aber ich möchte auf einen ganz anderen Aspekt hinaus. Grundrechte sind ja grundsätzlich Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat. Das hier ist aber komplexer, bzw. es geht weniger um staatliche Eingriffe. Private Firmen wie Facebook bzw. Meta oder Tiktok übernehmen im Internet die Meinungsherrschaft im öffentlichen Diskurs, heben politische Themen heraus und drängen andere in den Hintergrund. Sie bilden Meinungsmärkte.
Darüber hinaus hat auch die Gesellschaft einen großen Einfluss auf den Diskurs und die Wahrnehmung in Bezug auf die Meinungsfreiheit. Ein guter öffentlicher Diskurs lebt vom respektvollen Zuhören, vom Bemühen um sachliche Argumentationen und von der Bereitschaft, sich gegebenenfalls auch von der Meinung des anderen überzeugen zu lassen. Diese Fähigkeit – so muss man leider feststellen – kommt uns zunehmend abhanden.
Das Vertrauen in den Diskurs und die damit verbundene Diskursfähigkeit wird derzeit von vielen Seiten attackiert und abgeschwächt, beispielsweise von denen, die leichtsinnig immer wieder DDR-Vergleiche ziehen und damit nicht nur das Wirken der SED innerhalb dieser Diktatur verharmlosen;
(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
von denen, die bewusst und immer wieder ungeprüft falsche Fakten in Umlauf bringen; von denen, die selbst zugeben, das schlechteste Szenario für unser Zusammenleben im Land zu wollen; oder von denen, die vorsätzlich Vorurteile schüren und Ausgrenzung propagieren. Aber womöglich teilweise auch von denen, die anderen undifferenziert absprechen, Teil eines selbst definierten sogenannten demokratischen Spektrums zu sein, oder auch von denen, die leichtfertig andere Auffassungen – wie ganz extrem bei den Coronamaßnahmen – aus dem vermeintlich sagbaren Meinungsspektrum ausschließen.
Gleichzeitig möchte ich aber mit Blick auf die gefühlte Meinungsfreiheit als Indikator für den Zustand einer Demokratie vor einer Entwicklung warnen: Wenn man etwas – wenn auch mit hehren Motiven – mit der Stärkung der Demokratie begründet und zusätzlich mit dem Begriff „Demokratie“ bezeichnet und dabei vorgibt, diese zu stärken, erreicht man oft das Gegenteil – ob bei Bezeichnungen von Ministerien oder bei Gesetzen.
Bei der Stärkung der Diskursfähigkeit sollten wir stattdessen eher an den Stellen ansetzen, wo wir auch gute Chancen haben: bei den Räumen, in denen Diskurs aufgrund von Pluralität möglich ist, bei Räumen, in denen Menschen zusammenkommen: in der Feuerwehr, im Stadion, in der Nachbarschaft oder im Sportverein.
Eine Gesellschaft, die den breiten Diskurs respektiert und schützt, ist eine Gesellschaft, die Vielfalt und Toleranz fördert. Sie ist eine stabile Gesellschaft, die eine Demokratie tragen und mit Leben füllen kann. Führen wir mutig Diskussionen! Stellen wir uns denen, die den Diskurs – gleich von welcher Seite – verengen und entsachlichen wollen, entgegen. Denn in der Vielfalt der Meinungen liegt unsere Stärke und unser Potenzial für Fortschritt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7607822 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 155 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Schutz der Meinungsfreiheit vor staatlichen Übergriffen |