Helge LindhSPD - Bekämpfung von Antisemitismus
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt, schäme ich mich etwas, wenn ich an manche Debatten denke, die wir zum Thema Antisemitismus im Innenausschuss und in einigen anderen Gremien geführt haben – das ist kein Vorwurf an die Opposition oder an die Koalition –, einfach deswegen, weil wir uns, wenn wir ehrlich sind, um uns selbst gedreht haben. Aber es sollte um jüdische Perspektiven gehen. Daher ist es auch nicht relevant, wer wann wie gepunktet hat, wer recht hatte oder wer wann welche Mail an wen geschrieben hat.
(Zuruf des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD])
Wo sind die jüdischen Blickwinkel? Das ist die Frage, die im Mittelpunkt stehen sollte.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir debattieren über Antisemitismusdefinitionen, aber allzu oft ohne Juden. Nichtjuden erklären Juden, was Antisemitismus sei und was sie als Antisemitismus empfinden sollten oder nicht. Wir erleben, dass Personen des öffentlichen Lebens – bestausgebildet, bestinformiert, im Wissen um den Boykott jüdischer Geschäfte im Nationalsozialismus – jetzt zum Boykott jüdisch-israelischer Unternehmen aufrufen und das dann auch noch mit dem Argument rechtfertigen, sie täten das ja für jüdische Menschen. Um das noch zu toppen, tritt ein großer Verbreiter von Antizionismus und Antisemitismus, Roger Waters – eine Schande für die Popkultur –, öffentlich auf und sagt, er unterstütze nur „real Jews“, wirkliche Juden, frei nach Görings „Wer Jude ist, bestimme ich“.
Sie werden feststellen: Beim Antisemitismus spielen Jüdinnen und Juden und ihre Realität offensichtlich allzu oft keine Rolle. Pál Bodor hat das vor einiger Zeit prophetisch formuliert. Er wies darauf hin, es gebe zweierlei Juden: solche, von denen andere es behaupten, und solche, die sich als solche bekennen. Das sei ein riesiger Unterschied. Aber dieser Unterschied verschwinde von Zeit zu Zeit, zum Beispiel im Krematorium. Das ist der Ernst, über den wir hier heute zu reden haben; denn er hatte recht.
Wir stellen fest, wenn wir an manche Intellektuelle oder künstlerische Kreise denken, dass dort manchmal geradezu fixiert, manisch besessen Einstellungen und Meinungen über jüdische Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker vorhanden sind. Es wäre aber schön, wenn gleichermaßen deutliche Meinungen etwa über Herrn Raisi oder Ali Khamenei und über die iranische Regierung vorhanden wären. Denn diese iranische Regierung, mit der sich dieselben Leute nicht entsprechend manisch befassen, ist nicht nur bekannt für ihren virulenten Antisemitismus, sondern auch dafür, dass sie massenhaft Muslime hingeschlachtet hat. Wahrscheinlich ist sie das größte Risiko, die größte Gefahr für den Weltfrieden.
Es ist auch kein Zufall, dass ein Idol meiner Kindheit – ich schätzte ihn als Unterstützer des Wahlkampfs von Willy Brandt –, Günter Grass, ein Gedicht formulierte. „ Was gesagt werden muss“ lautet der Titel dieses Gedicht, und es war letztlich eine Verteidigung des Iran und ein zutiefst antisemitisches Manifest, auch noch aus dem unerträglichen Gestus des Tabubruches und des Widerspruches gegen die Meinungsdiktatur. Das eigentliche Schweigen aber, das, was er, Grass, der sich als links begriff, damit verdeckte und wovon er ablenkte, war die eigene SS-Vergangenheit. Auch dieses Schweigen war kein Zufall.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Deshalb halte ich hier fest: Was eigentlich gesagt werden muss, ist nicht unsere Befindlichkeit, ist auch nicht, wer wann was sagt, wer wann recht hatte, wie wir uns Vorwürfe an den Kopf werfen, hier oder im Innenausschuss. Was eigentlich gesagt werden muss, ist, dass Auschwitz-Birkenau, dass Belzec, dass diese Orte das Fundament sind, ohne das wir unsere Bundesrepublik –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.
– hier nicht denken können, und erst recht muss gesagt werden, was Auschwitz-Birkenau, was Belzec, was diese Orte bis zum heutigen Tage –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.
– für Jüdinnen und Juden in diesem Land und in Israel ganz konkret bedeuten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Peter Heidt [FDP])
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau aus der Gruppe Die Linke.
(Beifall bei der Linken)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7609807 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 164 |
Tagesordnungspunkt | Bekämpfung von Antisemitismus |