25.04.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 166 / Tagesordnungspunkt 6

Zanda MartensSPD - 20 Jahre EU-Osterweiterung

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Liebe Gäste! Denke ich an Europa, dann sehe ich mich als Kind in Lettland, bei meiner Oma auf dem Küchentisch sitzend, meine Füße in ihrem Schoß.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Schön!)

Sie erzählt mir vom Krieg,

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Hat mein Opa auch gemacht!)

und ich höre gefesselt zu. Lettland wurde 1940 von Nazis okkupiert, bevor dann 1944 die Russen kamen. Aus den Geschichten meiner Oma sind mir nur die Sowjets als die Bösen in Erinnerung geblieben. Ich habe erst viel später verstanden, was es hieß, dass ihr Vater, mein Uropa, der Chef der Dorfpolizei war, dass sie polnische Männer auf den Feldern und Frauen im Haushalt als Aushilfskräfte hatten und dass die ganze Familie 1944 Richtung Westen geflohen ist und nach Schweden übersiedeln wollte. Dass ich dann doch in Liepāja, zu Deutsch: Libau, diesseits der Ostsee zur Welt gekommen bin, liegt daran, dass mein Uropa, der selbst auf der Flucht seine Naziuniform nicht ausgezogen hatte, bei einer Rast am Waldrand vor den Augen meiner Oma von russischen Partisanen erschossen wurde. Er wurde am selben Waldrand anonym begraben, und meine Uroma wollte allein mit ihren Kindern dann doch nicht die Heimat verlassen. So lebte meine Oma in der Sowjetrepublik Lettland und musste in den ersten Jahren nach dem Krieg eine gut abgestimmte Geschichte erzählen, wo der Papa denn abgeblieben sei, und bestimmte Unterlagen, die mit seiner Arbeit in der Nazizeit zusammenhingen, gut verstecken.

In der lettischen Erzählung waren die Russen keine Befreier. Sie waren die nächsten Okkupanten. Davon ist man bis heute überzeugt und befürchtet, dass so etwas wieder passieren kann. Der Beitritt Lettlands zur NATO und zur EU 2004 war deshalb unsere echte Befreiung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und des Abg. Jörn König [AfD])

Wie wichtig Bündnisse sind, zeigt sich heute vielleicht sogar deutlicher als damals.

Dieser 1. Mai 2004 hat sich aber nicht ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Es ist keiner dieser Tage, von dem jeder 20 Jahre später noch genau weiß, wo er war oder was sie getan hat. Das schmälert aber keineswegs seine historische und geopolitische Bedeutung, sondern dürfte daran liegen, dass der Beitritt insgesamt gut zehn Jahre gedauert hat, und vielleicht auch daran, dass wir bereits im März 2004 den Beitritt zur NATO gefeiert haben. Jahrelang waren unsere Abendnachrichten durch Öffnungen und Schließungen von Beitrittsverhandlungskapiteln geprägt. Das Gesicht des damaligen EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen erkannten selbst diejenigen, die sich sonst überhaupt nicht für Politik interessierten.

Einer der letzten Schritte zum Ziel war dann das Referendum im September 2003. Für den Beitritt stimmten 67 Prozent, dagegen waren 32 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von stolzen 71,5 Prozent. Diese Zahlen zeigen: Es gab nicht nur Jubel und Euphorie in der lettischen Gesellschaft. Einige waren skeptisch und haben sich gefragt, ob es nicht zu früh für ein neues Bündnis sei: Vor ein paar Jahren haben wir uns gerade erst von der Sowjetherrschaft befreit. Wollen wir unsere Souveränität schon wieder abgeben? – Andere, die vielen Verlierer der Wende 1990, die es in Lettland genauso gab wie hier in Ostdeutschland, waren bis dahin von der neu gewonnenen Freiheit herb enttäuscht und sahen sich beim EU-Beitritt genauso über den Tisch gezogen wie bei den Privatisierungen, Fabrikschließungen und Arbeitsplatzverlusten kurz nach der Wende.

Dieses manchmal reale, manchmal auch nur diffuse Gefühl, nichts gegen viel Macht und viel Geld ausrichten zu können und irgendwelchen Herrschern ausgeliefert zu sein, rührt von der jahrzehntelangen Sowjeterfahrung, politisch nichts beeinflussen zu können. Wir hatten doch bis dahin keine wirklichen Bündnisse auf Augenhöhe erlebt. Wir haben lediglich erlebt, dass eine größere Macht uns okkupiert und uns vorschreibt, wie wir zu leben, zu denken und zu sprechen haben. Und dieses Gefühl ist nicht so einfach aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Das wird auch an die Generationen weitergegeben, die das selbst nicht mehr erlebt haben. Uns fehlte – und das spüren wir bis heute noch – die Erfahrung, selbst für unser Schicksal, für unsere Politik, für unser Glück oder auch Pech verantwortlich zu sein. Aber man muss Verantwortung übernehmen, wenn man Freiheit haben will.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Hier schließt sich für mich persönlich gewissermaßen der Kreis. Ich lebe und arbeite seit 2010 in Deutschland, habe inzwischen auch den deutschen Pass und bin tatsächlich die erste und die bisher einzige aus Lettland Stammende, die es in den Deutschen Bundestag geschafft hat. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie großartig die Freiheiten der EU sind: Hier bin ich.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber bei der EU geht es um mehr als nur um den persönlichen Nutzen. Auf die Frage, womit Menschen die EU verbinden, nennt kaum jemand den europäischen Binnenmarkt oder die Abschaffung von Roaming-Gebühren. Freiheit, Demokratie und gemeinsame europäische Werte sind die Antworten. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, verdeutlicht uns auf brutalste Weise, dass all dies nicht selbstverständlich ist. Unser Europa zu schützen, zu stärken und noch besser zu machen, das ist heute unsere Verantwortung. Wir alle gemeinsam haben glücklicherweise die Möglichkeiten, diese Verantwortung wahrzunehmen und ihr gerecht zu werden. Als Vorsitzende des Unterausschusses Europarecht will ich meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten, dass auch künftige Generationen die Vorteile eines freien, geeinten und friedlichen Europas genießen können.

Die nächste Möglichkeit hierzu bietet sich bereits in gut einem Monat bei der anstehenden Europawahl. Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, nein, ich möchte Sie gar dazu auffordern, mit Ihrer Stimme für eine demokratische Partei unser Europa zu stärken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Knut Abraham [CDU/CSU])

In Deutschland kann man übrigens zum ersten Mal bereits ab 16 Jahren an der Wahl teilnehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Liebe junge Leute, nutzt diese Chance! Ihr werdet schließlich am längsten in und mit eurem Europa leben dürfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU])

Als Nächster hat das Wort für die AfD-Fraktion Dr. Harald Weyel.

(Beifall bei der AfD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: „China Daily“! Oder Russia Today! – Gegenruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD]: Black-Rock-Lobbyisten sprechen auch! – Gegenruf des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ganz witzig! – Gegenruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD]: Genau! Unqualifizierte Bemerkung zu Beginn der Rede! – Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Noch ein Glas Wasser? Da kann einem der Hals schon trocken werden!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7610367
Wahlperiode 20
Sitzung 166
Tagesordnungspunkt 20 Jahre EU-Osterweiterung
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