25.04.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 166 / Tagesordnungspunkt 6

Fabian FunkeSPD - 20 Jahre EU-Osterweiterung

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Am 1. Mai 2004, am ersten Tag der EU-Osterweiterung, war ich sechs Jahre alt. Ich lebte damals in Pirna, wie heute, knapp 20 Kilometer entfernt von der tschechischen Grenze. Die meisten Menschen in Deutschland denken, wenn sie an die Europäische Union denken, zuerst an Städte wie Paris, Rom und Amsterdam. Ich denke zuerst an Prag. Ich denke an die europäischen Städte Frankfurt (Oder) und Görlitz, die sich sowohl in Deutschland als auch in Polen befinden. Ich denke an Pirnas polnische Partnerstadt Bolesławiec, an tschechische und polnische Autokennzeichen auf unseren Straßen.

Ich denke nicht an all diese Dinge, weil ich mich irgendwann an sie gewöhnt habe. Ich denke auch nicht an sie, weil ich mir große Mühe gegeben habe, mich auf sie einzulassen. Nein, ich verbinde alle diese Dinge mit der Europäischen Union, weil ich mich an gar keine andere Europäische Union erinnern kann.

(Beifall bei der SPD – Johannes Schraps [SPD]: Genau so soll es sein!)

Dass die EU mal anders aussah, dass sie an der Oder oder mitten in der Sächsischen Schweiz endete, dass auf den eben erwähnten Autokennzeichen kein blauer Hintergrund mit gelben Sternen war, das kenne ich größtenteils nur noch aus Geschichtsbüchern und Fotoalben.

Ich führe das hier nicht nur als geschichtsrühriges Pathos an. Die politischen Herausforderungen der Europäischen Union sind zu ernst, als dass wir hier und heute nur „Freude, schöner Götterfunken“ singend und die Europafahne schwingend Wohlfühlreden halten können. Nein, ich hebe diese biografischen Punkte so hervor, weil meine Lebenswirklichkeit in der bereits erweiterten EU natürlich auch meinen politischen Blick auf die aktuellen Herausforderungen wesentlich beeinflusst.

Wenn es für immer mehr Menschen in Deutschland – junge Menschen, Menschen wie mich – selbstverständlich ist, dass die Länder Zentral- und Osteuropas zur Europäischen Union gehören und auch schon immer zur Europäischen Union gehörten, dann muss das zwangsläufig auch auf das Handeln deutscher Politik Einfluss haben.

(Beifall bei der SPD)

Die Zeiten, in denen sich bloß Deutschland und Frankreich auf etwas einigen mussten, damit es in Europa Realität wird, sind lange vorbei. Das haben wir allerspätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine gesehen. Der Mittelpunkt europäischer Politik hat sich damit unweigerlich gen Osten verschoben. Und ich bin Bundeskanzler Olaf Scholz deswegen auch so dankbar, dass er seine große europapolitische Rede im Jahr 2022 in Prag gehalten hat und dass er gemeinsam mit Donald Tusk und Emmanuel Macron das Format des Weimarer Dreiecks demonstrativ wiederbelebt und gestärkt hat.

(Beifall bei der SPD – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Rohrkrepierer!)

Das Weimarer Dreieck muss zu dem zentralen Impulsgeber für die Zukunft der Europäischen Union werden.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Verschlusssache!)

Denn auch wenn die meisten von uns hier im Saal nach der polnischen Parlamentswahl im vergangenen Jahr aufgeatmet haben, so dürfen wir nicht den Fehler begehen, Deutschland gänzlich aus der Verantwortung für die oft von gegenseitigem Frust und Misstrauen geprägten deutsch-polnischen Beziehungen der letzten Jahre zu nehmen. Auch Deutschland hat in dieser Beziehung einiges an Demut wieder zu entdecken.

So waren es unsere Partner/-innen in Warschau, Prag, Vilnius und Tallinn, die uns allerspätestens seit 2014 immer wieder vor den imperialen Ambitionen Russlands warnten, die eine Neuausrichtung der europäischen Sicherheitsarchitektur einforderten, die die Risiken der einseitigen deutschen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas benannten und die mitunter auch klar aussprachen, dass Deutschland seiner Verantwortung für die Sicherheit der Europäischen Union nicht ausreichend nachkam.

Wir hätten früher auf sie hören sollen; denn wir müssen feststellen: Erst die Erweiterung von 2004 hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die EU so wirtschaftlich stark, global einflussreich und geopolitisch relevant ist, wie sie es heute ist.

(Beifall bei der SPD – Norbert Kleinwächter [AfD]: Falsch! Einfach falsch!)

Eine Europäische Union ohne ihre Mitgliedstaaten Zentral- und Osteuropas

(Dr. Michael Kaufmann [AfD]: Lissabon-Strategie: grandios gescheitert! Schlechtes Wirtschaftswachstum!)

wäre im Jahr 2024 kein politischer und wirtschaftlicher Akteur von globalem Gewicht, sondern lediglich ein regionaler Interessenverband. Erst die Erweiterung der EU hat sie zu dem gemacht, was sie heute ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb ist es umso tragischer, dass seit der Erweiterungsrunde von 2007 in 17 Jahren mit Kroatien lediglich ein weiteres Land in die Europäische Union aufgenommen wurde. Die Erweiterungsdynamik von 2004 wurde in den letzten zwei Jahrzehnten schmerzlich verschleppt.

Den politischen Preis dafür zahlen wir alle heute: in der Ukraine, auf dem Westbalkan und auch in der Türkei, mit Krieg, sicherheitspolitischer Instabilität und einer proeuropäischen Dynamik, die in zu vielen Gesellschaften und bei zu vielen Menschen angesichts jahrelanger Hinhaltemanöver zu Verbitterung geführt hat.

Der historische Erfolg der Erweiterung von 2004 und die verlorenen Jahrzehnte danach lehren uns: Wir dürfen die aktuelle proeuropäische Dynamik der Beitrittskandidaten nicht erneut verspielen. Wir müssen es ernst meinen mit Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, dem Kosovo, Georgien, Moldau und der Ukraine.

Denn auch vor 2004 gab es Zweifler; auch damals war es schwer, die Erweiterung gegen nationale Befindlichkeiten und wirtschaftliche Bedenken durchzubringen.

(Johannes Schraps [SPD]: So ist es!)

Aber der politische Erfolg heute spricht für sich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Deshalb anlässlich der anstehenden Europawahl mein Appell an alle demokratischen Kräfte hier im Haus: Erteilen wir den Antieuropäern eine klare Absage, auch im Europaparlament, auch nach der Europawahl! Lasst uns gemeinsam dem rechtsextremen Rand und ihren Wahnvorstellungen eines sogenannten Europas der Vaterländer entgegentreten!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei Abgeordneten der AfD – Dr. Götz Frömming [AfD]: Wie Kohl und Adenauer! Was für ein Grünschnabel! Machen Sie mal Ihr Abitur! O Gott! Ich fasse es nicht! – Dr. Harald Weyel [AfD]: Einspruch des französischen Botschafters! Kinderparlament ist das hier! – Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

In einem Europa in Sinne der AfD, in dem jedes Land isoliert und auf sich allein gestellt ist, säßen unsere zentral- und osteuropäischen Partner auf dem Präsentierteller. Russland und China hätten leichtes Spiel. Aber wie die Machenschaften Ihrer Spitzenleute ja gerade zeigen, ist vielleicht genau das auch Ihr Plan: Loyalität zu Russland und China, Politik gegen unser Land und unser Europa.

Eine starke Europäische Union ist das beste Mittel gegen Sie und Ihre Freunde im Kreml und für Europa und für die Zukunft.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Zurufe von der AfD)

Als Nächster hat das Wort für die Gruppe BSW Andrej Hunko.

(Beifall beim BSW)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7610381
Wahlperiode 20
Sitzung 166
Tagesordnungspunkt 20 Jahre EU-Osterweiterung
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