16.05.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 169 / Tagesordnungspunkt 8

Thorsten FreiCDU/CSU - 75 Jahre Grundgesetz

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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Gratulation an das Grundgesetz mit dem Zitieren dreier Sätze beginnen. Es sind die drei Sätze, die zu Beginn der drei freiheitlichen Verfassungen in Deutschland 1849, 1919 und 1949 standen. Der erste Satz lautet: „Das deutsche Reich besteht aus dem Gebiete des ... deutschen Bundes.“ Der zweite Satz heißt: „Das Deutsche Reich ist eine Republik.“ Und der dritte Satz lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Ich finde, der große Wurf ist im dritten Anlauf gelungen. Die entscheidende Frage war: Was ist so wichtig, dass man es als ersten Satz einer Verfassung formulieren muss? Die ersten beiden Fragen waren: „Wo ist Deutschland?“ und „Was ist Deutschland?“. Die dritte Frage, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 in den Mittelpunkt gerückt haben, war die schlichte Frage: „Warum ist Deutschland?“. Es war die grundsätzliche Wende in der deutschen Verfassungsgeschichte, dass man nicht mehr das Individuum auf den Staat bezogen hat, sondern den Staat auf das Individuum.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich glaube, dass das wirklich etwas Außergewöhnliches ist, was wir uns in dieser ganzen Besonderheit, in dieser Klarheit, Schlichtheit, aber auch Schönheit vor Augen halten müssen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 1949 ist das Grundgesetz 67-mal geändert worden. Das Volumen hat sich verdoppelt. Aber das Grundgesetz ist nicht doppelt so gut geworden.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen! – Helge Limburg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Deswegen, glaube ich, müssen wir uns immer vor Augen halten, dass wir dem Hang, immer neue Lebenssachverhalte immer ausführlicher in unserer Verfassung zu regeln, widerstehen. Er ist nämlich nicht gut. Eine Rechtsordnung wird nicht dadurch besser, dass sie Lebenssachverhalte zwingend zu Verfassungsrecht erhebt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der AfD)

Im Gegenteil: Die Möglichkeit, auf eine sich verändernde Welt auch dynamisch und angemessen zu reagieren, geht dadurch verloren.

Aber ich will auch sagen: Die akute Gefahr für unsere Verfassung ergibt sich nicht daraus. Die akute Gefahr für unsere Verfassung ergibt sich aus anderen Dingen, beispielsweise dann, wenn religiöse Fundamentalisten unsere Rechtsordnung durch die Scharia ersetzen möchten. Die Gefährdung für unsere Verfassung ergibt sich auch aus einer Partei, in deren Reihen, liebe Kollegen der AfD, Menschen sitzen, die diesen zentralen Satz der Menschenwürde völkisch relativieren möchten

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Widerspruch des Abg. Dr. Malte Kaufmann [AfD])

und damit im Grunde genommen die Idee von 1949 aus der deutschen Geschichte verbannen möchten. Daraus entsteht eine Gefahr, und wir sollten uns dieser Gefahr mit aller Kraft widersetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wenn man jetzt die zentrale Frage stellt: „Was können wir als Parlament tun, wenn die Gefahr besteht, dass freiheitliche Verfassungen scheitern, dass Demokratie stirbt?“ bzw. sich fragt: „Wie passiert das?“, dann ist die Antwort: In der Regel passiert das nicht durch einen lauten Knall, sondern im Zweifel passiert das leise. Freiheitliche Demokratien scheitern in Wahlen, weil Parteien unter Verweis auf Wahlergebnisse glauben, dass sie die Pressefreiheit aushöhlen können, dass sie die Rechte der Opposition unterminieren können, dass sie die Unabhängigkeit der Justiz infrage stellen können und genauso die Grundfreiheiten. Deswegen müssen wir als Parlament unsere Lehren daraus ziehen.

Ich würde dem Grundgesetz vor diesem Hintergrund ein Parlament wünschen, das sehr klar ist, wenn es darum geht, zu zeigen, wo sich Volkswillen abbildet. Das geschieht nämlich hier im deutschen Parlament. Hier bildet sich Volkswillen ab. Das muss uns klar sein.

Zum Zweiten muss auch klar sein – da möchte ich den früheren Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zitieren –, dass eine vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am Ende Mehrheiten entscheiden – das ist klar –, sondern dass es entscheidend auf die Opposition ankommt. Das hat er damals als Mitglied einer Mehrheitsfraktion hier im Bundestag gesagt. Die Bedeutung der Opposition zeigt sich auch am Gewicht des Parlaments als Vertretung des ganzen Volkes. Deshalb müssen wir den Parlamentarismus stärken.

Ich will zuletzt sagen – auch das ist heute schon zur Sprache gekommen –: Es ist nicht akzeptabel, dass in Deutschland im Jahr 4 000 Amts- und Mandatsträger strafrechtlich relevant angegangen und attackiert werden. Zur Stärke des Parlamentarismus und des Parlaments gehört es auch, dass wir Wege finden, diese Menschen zu schützen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Da geht es um Menschen auf allen politischen Ebenen, auch auf der kommunalen, auch um Ehrenamtliche. Die Demokratie lebt davon, dass Menschen sich für diese Demokratie einsetzen und engagieren. Das ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass wir heute nicht nur auf 75 erfolgreiche Jahre zurückblicken können, sondern dass auch die nächsten Jahrzehnte erfolgreiche und gute für unser Land sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Der nächste Redner ist der fraktionslose Abgeordnete Robert Farle.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7611121
Wahlperiode 20
Sitzung 169
Tagesordnungspunkt 75 Jahre Grundgesetz
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