07.06.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 173 / Zusatzpunkt 8

Esther DilcherSPD - Schutz Minderjähriger bei Auslandsehen

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen! Heute leben laut UNICEF über die ganze Welt verteilt circa 640 Millionen Mädchen und Frauen, die vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Frau Hierl, ich habe für meine Rede fast den identischen Beginn gewählt wie Sie für Ihre; ich denke, wir beide haben uns bei UNICEF ganz gründlich informiert.

Pro Jahr werden schätzungsweise immer noch 12 Millionen Kinderehen geschlossen. Die Folgen für die Mädchen sind fatal – auch das haben wir schon gehört –: Sie werden ihrer Kindheit beraubt, sie werden von Bildungsangeboten abgeschnitten, ihnen wird das Recht genommen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In unzähligen Ländern dieser Welt sind Frühehen weitverbreitet, und Kinderehen sind keinesfalls allein ein Problem in islamischen Gesellschaften, wie manchmal suggeriert wird. Betroffen sind nämlich beispielsweise auch West- und Zentralafrika, wo 37 Prozent der jungen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag heiraten müssen. Also etwa jede dritte Ehe dort ist eine Kinderehe. Im östlichen und südlichen Afrika waren es 32 Prozent, im südlichen Asien 28 Prozent, in Lateinamerika, in der Karibik 21 Prozent sowie in Osteuropa und in Zentralasien 10 Prozent.

Die Vereinten Nationen und viele Menschenrechtsorganisationen arbeiten seit Jahren daran, Kinderehen weltweit zu beenden, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist unbedingt in unserem Sinne. Ich denke, da herrscht hier im ganzen Plenum durchaus Einigkeit.

Wir führen eine rechtspolitische Debatte, um Sicherheit und Rechtsklarheit für Minderjährige zu schaffen, die hierher eingereist sind. Grundsätzlich – die Kollegen und Kolleginnen vor mir haben es schon erwähnt – bestanden zwei Möglichkeiten: entweder alle Frühehen für unwirksam zu erklären oder eben eine Einzelfallbetrachtung zu machen durch eine Aufhebungslösung. Dazu ist schon ganz viel gesagt worden. Wir haben uns in der Großen Koalition 2017 auf die Unwirksamkeitslösung geeinigt. Jetzt schaffen wir zusätzlich Heilungsmöglichkeit durch Erklärung nach Vollendung der Volljährigkeit, wir regeln Unterhaltsansprüche. Dies ist zwar wirklich eine Minimallösung, aber ergänzt um die bereits erwähnte Evaluation.

Was bei der Evaluation eventuell noch berücksichtigt werden sollte, ist, dass wir in Deutschland keine klare Datenlage haben, ob Minderjährige, die einreisen, überhaupt verheiratet sind; denn selbst verheiratete Minderjährige können mit ihren Eltern einreisen, und wenn sie mit ihren Eltern einreisen, wird nicht nach dem Personenstand der Kinder gefragt. Man sollte vielleicht mal im Blick haben, das zu ändern. Die Jugendämter sind es nämlich, die bei Einreise von Minderjährigen ohne Begleitung einer sorgeberechtigten oder erziehungsberechtigten Person zur vorläufigen Inobhutnahme verpflichtet sind. Das heißt, nur wenn sie mit dem Ehepartner einreisen, kommt man überhaupt auf die Idee, zu fragen, ob diese Minderjährigen den Personenstand „verheiratet“ haben. Tun sie das mit ihren Eltern, laufen sie unterm Radar.

Wenn aber geprüft wird, dann wird in jedem Einzelfall durch das Jugendamt unter Einbezug der betroffenen Minderjährigen geprüft, ob sich durch die Verbindung zum Ehepartner eine Gefährdung des Kindeswohls ergibt oder diese Beziehung auch durchaus weiter unterstützt werden kann. Das kommt ganz auf das Alter des Kindes an, das kommt auf das Alter des Ehepartners an, also auf ganz viele Umstände; und da guckt das Jugendamt genau hin. Deshalb sind wir der Einschätzung der Praktiker und des Städtetags gefolgt, die durchaus eine Abfrage bei den Jugendämtern gemacht haben, was sie für sinnvoll halten, und sie haben sich eindeutig für die Unwirksamkeitslösung ausgesprochen.

Meine Kollegin Eichwede und auch die anderen Kolleginnen und Kollegen haben zu der Abgrenzung schon ganz viel gesagt. Ich möchte daher jetzt im Weiteren auf die soziale und gesellschaftliche Bedeutung der Ächtung dieser Kinderehen eingehen. Daher habe ich auch zu Anfang diese Zahlen genannt. Viele Faktoren führen dazu, dass Mädchen und Jungen als Minderjährige verheiratet werden – auch Jungen sind betroffen, wenn auch nicht in solch einem Umfang wie Mädchen; aber es gibt durchaus Jungen, die als Minderjährige verheiratet werden –: Gesundheits- und Wirtschaftskrisen, bewaffnete Konflikte, Armut, kulturelle oder religiöse Rollenbilder, fehlende Bildung und die Vorstellung, dass Mädchen in einer Ehe besser geschützt und abgesichert sind. Töchter werden verheiratet, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.

Die schwerwiegenden Folgen – auch das haben wir schon gehört – werden dabei oft nicht vorausgesehen. Wenn manchmal mit den Eltern in den betroffenen Ländern gesprochen wird und sie aufgeklärt werden, was die Töchter erwartet, dann gibt es durchaus einige, die sagen: Oh, das wollen wir nicht. – Wenn man ihnen dann Hilfe anbietet, sind sie auch bereit, diese anzunehmen.

Die Minderjährigen werden aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und sind im Haushalt des Ehemannes isoliert und auch oft einem höheren Risiko für häusliche Gewalt ausgesetzt. Viele Staaten haben sich daher weltweit zur Beendigung von Kinderehen bis zum Jahr 2030 verpflichtet. Das erfordert viel Aufklärungsarbeit. Das Engagement in dieser Hinsicht lohnt sich auch deshalb, um weitere Fluchtursachen zu bekämpfen, um Armut und fehlender Bildung in den Heimatländern der Minderjährigen und ihrer Familien zu begegnen. Auch deshalb sind Ausgaben im Bereich Entwicklungshilfe hier sehr, sehr zielführend.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Eine gut ausgebildete Tochter kann für ihre Familie nämlich eine wesentlich größere Unterstützung leisten, kann ein größerer Gewinn sein als eine früh verheiratete Tochter, und dies muss im Bewusstsein der Familien und der Eltern ankommen. Es wird daher nicht ausreichend sein, wenn wir in Deutschland Kinderehen für unwirksam erklären, aber es ist ein wichtiger Baustein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7612228
Wahlperiode 20
Sitzung 173
Tagesordnungspunkt Schutz Minderjähriger bei Auslandsehen
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