Marianne SchiederSPD - Aufarbeitung v. NS-Euthanasie u. Zwangssterilisation
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Die sogenannten Euthanasiemorde an schätzungsweise 300 000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen und die an etwa 400 000 Menschen durchgeführten Zwangssterilisationen waren ein besonders verabscheuungswürdiger Teil der menschenverachtenden, rassistischen nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Die Auseinandersetzung mit diesen Gräueltaten setzte in Deutschland spät ein. Auch lange nach dem Ende des Nationalsozialismus existierten Abwertungsmuster und Stigmatisierungen in Bezug auf Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Ja, und es gibt sie ja bis heute. Die einstigen Täter bauten sich in der jungen Bundesrepublik Deutschland unbehelligt zweite berufliche Karrieren auf und wurden selten für ihre Taten zur Verantwortung gezogen. Demgegenüber litten die Opfer und ihre Angehörigen – und leiden viele Opfer und ihre Familien bis heute – unter den Folgen dieser Verbrechen. Wir dürfen die Opfer nicht vergessen.
Es ist mehr als ein symbolischer Akt, wenn der Deutsche Bundestag heute noch einmal ausdrücklich feststellt, dass die Opfer der NS-“Euthanasie“ und die Opfer der Zwangssterilisationen als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Mein und unser Dank geht an alle Gedenkstätten und Erinnerungsorte und an die vielen regionalen Opfer- und Gedenkinitiativen und Forschungseinrichtungen für ihre hervorragende und beharrliche Arbeit zu diesem wirklich schwierigen Themenkomplex. Respekt und Anerkennung gebührt auch der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, die unaufhörlich mahnt und aufrüttelt.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten in Deutschland nicht annähernd in der Lage sind, den Gesamtbestand der an unterschiedlichsten Orten und in den verschiedensten Archiven lagernden Akten zu überblicken. Es gibt den Aktenbestand im Bundesarchiv, bestehend aus 30 000 Patientenakten aus der ersten Phase der sogenannten Euthanasie. Aber Akten liegen auch an vielen anderen Orten und müssen dringend vor der Vernichtung bewahrt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Es wird da und dort ein Verbot für die Beseitigung dieser Akten gefordert. Aber wir sind der Überzeugung, dass es keine Verbote, sondern unterstützende Angebote braucht. Es fehlt an Initiativen, um die immer noch bestehenden Forschungs- und Aufklärungslücken schließen zu können, die Dokumentation der Opferschicksale und der dazugehörenden Täterprofile voranzubringen und so in vielen Fällen die Aufarbeitung überhaupt erst zu ermöglichen. Deshalb greifen wir den Vorschlag aus der Fachwelt auf, ein zeitlich befristetes Projekt zu initiieren, um bundesweit die Kranken- und Patientenakten zu sichern, zu digitalisieren, zu konservieren und für die Aufarbeitung verfügbar zu machen. Das Projekt soll unter Beteiligung der Gedenkstätten an ehemaligen „Euthanasie“-Tötungsanstalten, des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin, der Verbände von Menschen mit Behinderungen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Disability Studies durchgeführt werden.
Ziel muss es gerade auch sein, den berechtigten Interessen der Opferfamilien gerecht zu werden und sie effektiver und zielgenauer begleiten zu können. Darüber hinaus bedarf es der Verankerung der historischen Verbrechen der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen unter anderem in Bildung, Kulturvermittlung und in der Ausbildung in medizinischen, psychiatrischen, psychotherapeutischen und pflegerischen Berufen. Auch die vorgeschlagene nationale Fachtagung dient diesem Zweck und wird helfen, neue kooperative, strukturelle Konzepte im Umgang mit den Originalakten aus der NS-Zeit zu entwickeln.
Dass die Gedenkstätten und Erinnerungsorte dazu auch weiterhin eine nachhaltige finanzielle Unterstützung brauchen, versteht sich von selbst. Die Länder sind ebenso in der Verantwortung wie der Bund. Bestimmt bietet das vorgeschlagene Projekt jede Menge Mitwirkungs- und Kooperationsmöglichkeiten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade bei diesem Thema mag ich Sie wirklich ungern unterbrechen. Achten Sie selbst doch ein bisschen auf die Redezeit.
Als Nächste erhält das Wort Annette Widmann-Mauz für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Source | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Cite as | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Retrieved from | http://dbtg.tv/fvid/7613443 |
Electoral Period | 20 |
Session | 178 |
Agenda Item | Aufarbeitung v. NS-Euthanasie u. Zwangssterilisation |