Annette Widmann-MauzCDU/CSU - Aufarbeitung v. NS-Euthanasie u. Zwangssterilisation
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen 1940 und 1941 gingen beim Standesamt in Tübingen vorgedruckte DIN-A6-Kärtchen zu Verstorbenen ein. Handschriftlich eingetragen waren darauf die Namen, Personalien und das jeweilige Sterbedatum von insgesamt 47 Menschen. Angaben zur Todesursache fehlten. Wie und woran waren sie gestorben? Zumindest die Zeitpunkte und die Todesorte Grafeneck, Hartheim, Hadamar und Sonnenstein geben uns den eindeutigen Hinweis, dass es sich bei allen um sogenannte Euthanasieopfer handelt – Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, Homosexuelle, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker, sogenannte Asoziale. Hunderttausende wurden im NS-Regime systematisch verfolgt, ermordet und gegen ihren Willen zwangssterilisiert. Die Nationalsozialisten verharmlosten ihre Verbrechen zynisch mit dem Begriff des „schönen Todes“ und rechtfertigten sie zum Zweck einer vermeintlichen Erbgesundheit und „Reinhaltung des gesunden deutschen Volkes“.
Dass wir in der Verantwortung stehen, die Aufklärung dazu weiter voranzutreiben, darüber waren wir uns nach einer Anhörung im Kulturausschuss bereits im September 2022 fraktionsübergreifend einig; denn bis heute ist das Ausmaß bei Weitem noch nicht vollständig erforscht. Damit die entsprechenden Patientenakten und Personenunterlagen der Täter für Forschung, Bildung und Anfragen zugänglich sind, müssen sie bundesweit lokalisiert, gesichert, konserviert und zu ihrer Archivierung digitalisiert werden. Nicht wenige Mediziner und Psychiater waren maßgeblich an den Tötungsaktionen und Zwangssterilisationen beteiligt. In Bildung, Kulturvermittlung und in der Ausbildung in medizinischen Berufen müssen sie deshalb verankert werden und für die Fragestellung der Mittäterschaft sensibilisieren.
In unserem gemeinsamen Antrag unterstreichen wir heute einmal mehr die Bedeutung der historischen Gedenkstätten, wie zum Beispiel an den Orten der T4-Vernichtungsanstalten und der regionalen Opfer- und Gedenkinitiativen. Ihre bauliche Substanz muss erhalten und ihre Arbeit bei der Aufarbeitung des Archivmaterials und in der Beratung auch in Zukunft nachhaltig unterstützt werden. Unser Ziel ist, dass Wissenschaft, Gedenkstätten, Opfer- und Behindertenverbände gemeinsam Lösungen für ein entsprechendes Portal entwickeln, das die Gedenkstätten und Forschungsinstitute mit Familienangehörigen von Opfern schnell und zielorientiert zusammenbringt und sie im Umgang mit historischen Akten unterstützt.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem schlichten und gewaltigen Satz unserer Verfassung steckt nicht nur das implizite Eingeständnis, dass sie im Nationalsozialismus millionenfach mit Füßen getreten wurde, sondern auch ein Appell an unsere Verantwortung. Werden wir ihr gerecht!
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Das Wort erhält Erhard Grundl für Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7613444 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 178 |
Tagesordnungspunkt | Aufarbeitung v. NS-Euthanasie u. Zwangssterilisation |