27.06.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 178 / Tagesordnungspunkt 17

Thomas HackerFDP - Aufarbeitung v. NS-Euthanasie u. Zwangssterilisation

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im 80. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im 80. Jahr nach der Befreiung Deutschlands und Europas von der menschenverachtenden Diktatur der Nationalsozialisten gibt es immer noch Blindstellen, weiße Flecken in unserer Erinnerungskultur. Immer noch gibt es Opfer und Opfergruppen, derer wir hier im Deutschen Bundestag nicht oder nicht ausreichend gedacht haben. Immer noch!

Und deswegen sage ich gleich zu Beginn meiner Rede: Ich bin den Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturausschuss dankbar, dass für uns Erinnerungskultur nicht nur eng beschriebene Seiten aus den Geschichtsbüchern sind, sondern dass wir uns seit zwei Legislaturperioden konsequent darangemacht haben, die weißen Stellen auszufüllen – in unterschiedlichen Regierungskonstellationen, in unterschiedlichen Rollen als Oppositions- oder Regierungsfraktionen, aber gemeinsam aus der Mitte des Hauses heraus: in der letzten Legislaturperiode die Opfergruppe der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, in dieser die in so vieler Hinsicht besondere Opfergruppe der Zeugen Jehovas und jetzt die Opfer von Euthanasie und Zwangssterilisation.

Daneben bringen wir Großprojekte voran wie das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ und das Deutsch-Polnische Haus als Ort des Gedenkens, des Forschens und der Begegnung – gemeinsam.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Danke, Marianne Schieder und Katrin Budde, danke, Annette Widmann-Mauz und Erhard Grundl, für die Zusammenarbeit. Danke!

Allein schon mit dem Begriff „Euthanasie“ machten die Nationalsozialisten deutlich, wie menschenverachtend ihr Weltbild war. Der „schöne Tod“ sollte alle die ereilen, die krank oder schwach waren, die irgendwie anders waren oder anders dachten. Plötzlich waren die Schwächsten der Gesellschaft in akuter Lebensgefahr – in Heimen, Pflegeanstalten, Krankenhäusern oder psychiatrischen Einrichtungen. Plötzlich waren sie der Willkür ausgeliefert, der Willkür derer, die eigentlich für sie sorgen und für sie da sein sollten.

Ein Kreuz auf der Patientenliste reichte aus, um ein Todesurteil auszusprechen, um kranke Menschen – Erwachsene und Kinder – verhungern zu lassen, durch Giftspritzen oder in der Gaskammer zu töten. Der Auftrag kam von den Nazis, Ärzte und Anstaltsleiter führten ihn aus. Mindestens 300 000 Menschen, davon 5 000 Kinder, verloren so ihr Leben. Doppelt zynisch ist, dass die Erkenntnisse aus diesen Verbrechen später Grundlage für den millionenfachen Mord in den NS-Vernichtungslagern wurden.

Weiteren rund 400 000 Menschen nahm man das Recht auf eigene Kinder, auf eigene Familie durch Zwangssterilisation, vor allem jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, Angehörigen der Sinti und Roma, aber auch queeren Menschen und Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen.

Viele Vertreter unterschiedlicher medizinischer Berufe waren an den Taten beteiligt. Hochgebildete, kultivierte Menschen wurden zu Handlangern der Nazis und übten ihren Beruf oft auch noch nach 1945 aus.

Die Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen hat in Deutschland erst spät eingesetzt, zu spät, und bleibt Auftrag für uns. Wir bekennen uns zu der Verantwortung aus den Verbrechen, die in deutschem Namen während der NS-Zeit stattgefunden haben und deren Konsequenzen wie die Stigmatisierung von Menschen mit Beeinträchtigungen teilweise bis in unsere heutige Zeit hineinreichen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Daher gilt es, der Opfer dieser schrecklichen Verbrechen zu gedenken, ihr Leid anzuerkennen und ihnen, ihren Familien und Nachfahren Sichtbarkeit, eine Stimme zu geben. Wir wollen die Sicherung der noch vorhandenen Akten ermöglichen und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen weiter vorantreiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir heute eine weitere Blindstelle in unserem Erinnern auffüllen, bleibt noch viel zu tun. Die Überarbeitung des Gedenkstättenkonzepts ist dringend, ist überfällig und darf nicht von oben herab geschehen, sondern muss im Dialog und Austausch mit den Gedenkstätten, der Wissenschaft und dem Parlament erfolgen – idealerweise als gesamtgesellschaftlicher Dialog.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nur dann wird unser Erinnern uns immer wieder unsere Verantwortung vor Augen führen –

Kommen Sie bitte zum Schluss.

– sofort, Frau Präsidentin –: unsere Verantwortung im Hier und Jetzt. Unsere Verantwortung, aufzustehen und zu kämpfen: gegen Hass, Erniedrigung und Verachtung.

Lieber Herr Kollege Hacker!

Unsere Verantwortung, zu kämpfen für die Achtung des Lebens und die Würde des Einzelnen, zu kämpfen für Freiheit und Demokratie – gemeinsam.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7613447
Wahlperiode 20
Sitzung 178
Tagesordnungspunkt Aufarbeitung v. NS-Euthanasie u. Zwangssterilisation
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