Katharina DrögeDIE GRÜNEN - Bundeskanzler und Bundeskanzleramt
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede heute mit einem Bild anfangen, das mir einmal gezeigt wurde. Das Bild zeigte eine Blumenwiese mit Schmetterlingen.
(Zurufe: Oh!)
Das Bild wurde gemalt von einer Frau, die vor einigen Jahren nach Deutschland geflohen ist. Sie war auf der Flucht unterwegs mit einer Gruppe von Menschen, als sie überfallen wurde. Sie selbst wurde an einen Baum gebunden und musste dort mit ansehen, wie viele andere Menschen aus dieser Gruppe vergewaltigt und ermordet wurden.
Die Blumenwiese mit den Schmetterlingen auf diesem Bild: Das ist die Wiese, auf die sie dabei geschaut hat, die Wiese, unter der die Menschen begraben wurden. Dieses Erlebnis hat sie so traumatisiert, dass sie aufgehört hat, zu sprechen.
(Zuruf von der AfD: War das in NRW?)
Das Bild wurde im Rahmen einer Psychotherapie gemalt, die die Caritas angeboten hat.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es sind zuallererst diese Menschen, über die wir sprechen, wenn wir miteinander über das Thema „Flucht und Asyl“ diskutieren;
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Menschen, denen das Schlimmste passiert ist, was wir uns vorstellen können; Menschen, die hier nichts anderes suchen als die Möglichkeit, ein Leben in Sicherheit und Frieden zu führen. Dafür gibt es das Recht auf Asyl, und deshalb müssen wir es schützen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir alle miteinander als demokratische Parteien haben eine Verantwortung, wenn wir über Menschen reden, die auf der Flucht sind,
(Tino Chrupalla [AfD]: Reden Sie erst mal über die Menschen im eigenen Land!)
nämlich die Verantwortung, zu differenzieren. Es ist möglich, mit großer Klarheit darüber zu sprechen, dass es Menschen gibt, die zu Recht hier bei uns Schutz suchen, und darüber zu sprechen, dass es Menschen gibt, die den Schutz, den wir hier gewähren, missbrauchen.
Es ist möglich, sonnenklar darüber zu sprechen, dass Menschen, die hier schwere Verbrechen begehen, bis hin zu Mord und Terror, jeden Anspruch auf Schutz in unserem Land verloren haben und dieses Land verlassen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Christian Dürr [FDP])
Es ist möglich, darüber zu sprechen, wie schockiert, entsetzt und traurig wir über den furchtbaren Terroranschlag von Solingen sind. Glauben Sie mir – ich selbst bin Kölnerin –, ich habe mich an dem Abend gefragt, ob Freunde von mir auf diesem Stadtfest sind und ob es ihnen wohl gut geht.
Es ist möglich, über all das in großer Klarheit zu sprechen und gleichzeitig zu differenzieren,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
gleichzeitig so darüber zu sprechen, dass wir die anderen eben nicht treffen; die anderen, die damit schlicht und einfach nichts zu tun haben – so wie die Frau, die das Bild mit dem Schmetterling gemalt hat.
Wenn ich mir die politische Debatte in den letzten Wochen oder vielleicht sogar Monaten anschaue, dann muss ich aber sagen: Diese Differenzierung gelingt immer weniger Demokraten in diesem Haus, und ich finde, das ist ein großes Problem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Ja, wir müssen über den gewaltbereiten Islamismus sprechen – nicht erst seit Solingen, sondern schon seit vielen Jahren. Islamismus gehört zu den größten Gefahren für unsere Gesellschaft. Der radikale Islamismus vergiftet die Köpfe der Menschen. Er führt zu Gewalt, Unterdrückung und Tod. Deshalb ist es richtig, mit aller Entschiedenheit, mit aller Entschlossenheit und mit aller Härte gegen Islamismus vorzugehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir haben null Toleranz gegenüber Gefährdern. Wer hier Anschläge oder Attentate plant, der muss abgeschoben werden; das fordern wir Grünen schon seit Langem.
(Lachen bei der AfD)
Und wer im schlimmsten Fall einen solchen Anschlag wie den in Solingen begangen hat, hat jedes Recht auf Schutz durch Asyl verloren.
(Beatrix von Storch [AfD]: Wie viele Morde muss er denn begehen?)
Aber für Sicherheit braucht es mehr. Es braucht eine engmaschige Überwachung auch deutscher Gefährder. Es braucht ein Bundesamt für Verfassungsschutz, das noch stärker als Frühwarnsystem agieren kann, um Gefahrenpotenziale auch wirklich zu erkennen. Es braucht ein noch entschlosseneres Vorgehen gegen die Radikalisierung im Netz; denn das Gift des Islamismus erreicht die Köpfe der Menschen nicht nur im Ausland, sondern auch hier. Deswegen ist es so wichtig, gegen Radikalisierung vorzugehen. Prävention und Aufklärung sind ganz entscheidende Teile einer Strategie für mehr Sicherheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Man sollte darüber sprechen, was wirklich mehr Sicherheit für die Menschen in diesem Land bringt. Was allerdings überhaupt nichts bringt – wirklich kein Stück mehr Sicherheit –, ist, wenn man versucht, in den Nachwehen eines furchtbaren Terroranschlags mit den Ängsten der Menschen Wahlkampf zu machen, so wie Sie, Herr Merz, das nach Solingen getan haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist wirklich unverschämt! Wirklich unverschämt!)
Sie, Herr Merz, haben keinen Vorschlag gemacht, wie man Islamismus gezielt bekämpfen kann. Was Sie stattdessen zwei Tage nach Solingen vorgeschlagen haben, war ein sofortiger Aufnahmestopp für alle Menschen aus Syrien und Afghanistan. „ Alle“, das heißt auch die jesidischen Frauen, die verschleppt, vergewaltigt und versklavt wurden, gerade von den Terroristen des „Islamischen Staates“, und zu uns geflohen sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
„Alle“, das heißt auch die Menschenrechtsaktivisten, die sich in Afghanistan den Taliban entgegenstellen, und auch die Frauen und Mädchen, die in Afghanistan auf der Straße kein Wort mehr sprechen können. Alle!
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, Herr Merz: Wer einen Vorschlag macht, der nicht mehr differenziert zwischen den Terroristen und ihren Opfern, der scheitert zu Recht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
und zwar an jedem Gesetz, das sich Deutschland, die Europäische Union und die internationale Staatengemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben haben. Ich sage Ihnen: Das ist nicht nur eine Politik ohne Herz, sondern auch eine Politik ohne Sinn und Verstand.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kluge Politik behält den Überblick gerade nach so einem furchtbaren Anschlag und konzentriert sich auf das, was wirklich hilft. Das ist ein Sofortprogramm zur Stärkung der inneren Sicherheit in diesem Land, zum Beispiel durch eine bessere Unterstützung unserer Polizei.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Polizeibeauftragte, oder?)
Polizisten haben in den letzten Wochen Großartiges geleistet. Sie haben viele Menschenleben geschützt. Dafür möchte ich einmal im Namen des ganzen Hauses Danke sagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Aber ich glaube, viele Polizistinnen und Polizisten können dieses Danke mittlerweile von uns nicht mehr hören.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ja, das glaube ich auch!)
Sie wünschen sich ganz reale Unterstützung in ihrer täglichen Arbeit: reale Unterstützung bei der Ausstattung, sodass sie bei Kontrollen nicht mehr im Regen stehen,
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Taser zum Beispiel! Taser!)
reale Unterstützung für einen funktionierenden Digitalfunk, der da eingesetzt wird, wo er wirklich gebraucht wird, oder auch einfach mehr Kolleginnen und Kollegen angesichts der vielen Überstunden, die unsere Polizisten täglich in diesem Land leisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Mehr rechtliche Kompetenzen!)
Darüber hätten wir gerne mit Ihnen von CDU und CSU in der Arbeitsgruppe, die Sie gestern vorzeitig verlassen haben, gesprochen. Denn für so etwas braucht man auch die Bundesländer. Für die Polizei sind auch die Bundesländer zuständig,
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Die machen das schon!)
in denen Sie viele Innenminister stellen. Aber Sie als Union hat das nicht mal interessiert. Sie wollten mit uns nicht über die Situation der Polizei sprechen. Sie wollten mit uns nicht über eine Verschärfung des Waffenrechts sprechen. Sie wollten mit uns nicht über eine Bekämpfung der Organisierten Kriminalität sprechen. Sie wollten mit uns nicht über Befugnisse der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden sprechen. Sie wollten mit uns nicht über einen Schutz der kritischen Infrastruktur sprechen. Die innere Sicherheit in diesem Land hat Sie schlicht und einfach nicht interessiert. Das ist ein Armutszeugnis für die Union; das muss ich Ihnen so ehrlich sagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Das Einzige, worüber Sie mit uns sprechen wollten, war das Thema Asyl. Auch wir wollten mit Ihnen über das Thema Asyl sprechen. Es macht Sinn, wenn Bund und Länder sich gemeinsam an einen Tisch setzen und schauen – gerade nach Solingen –, wie man es schafft, dass die Dublin-Verfahren besser ablaufen und Behörden schneller zusammenarbeiten können; denn offensichtlich hat das nicht überall funktioniert.
Es macht Sinn, über die Vorschläge des Deutschen Richterbundes zu sprechen, der davor gewarnt hat, dass die mangelhafte personelle Ausstattung der Justiz dazu führt, dass diese zum Flaschenhals in der deutschen Asylpolitik wird.
Es macht Sinn, gemeinsam über die europäische Asylpolitik zu sprechen, zum Beispiel über eine vorzeitige Umsetzung des GEAS, wie wir Ihnen das in der Arbeitsgruppe angeboten haben. Aber auch darüber wollten Sie nicht sprechen. Sie hatten an einem vernünftigen Dialog einfach kein Interesse; das ist eine große verpasste Chance.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Christian Dürr [FDP])
Der Kern der Demokratie ist die Fähigkeit zum Kompromiss. Unser Föderalismus baut darauf auf, dass Bund und Länder über den Bundesrat miteinander zusammenarbeiten. Und, Herr Merz, es ist ja nicht nur die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Tisch aufgestanden. Es sind ja direkt all Ihre Ministerpräsidenten mitgegangen. Das ist eine verpasste Chance.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Es waren aber gar keine da!)
Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erwarten zu Recht, dass sich nicht jeder wie ein Kind im Sandkasten hinsetzt und sagt: Wenn ich nicht alleine bestimmen darf, spiele ich nicht mehr mit. – So kann man doch kein Land regieren!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das ist so unseriös, Frau Dröge! Eigentlich müssten Sie das wissen! – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Peinlich, wirklich peinlich!)
Sie als Union haben im Kern auf einem einzigen Vorschlag beharrt, und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Dieser Vorschlag war leider Unsinn.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das sieht die FDP aber anders! – Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Ihre Rede ist Unsinn!)
Ich will jetzt nicht ewig darüber diskutieren, warum Ihr Vorschlag rechtlich nicht funktioniert. Das juristische Proseminar hatten Sie gestern. Ich will Ihnen stattdessen erklären, warum das in der Sache auch nicht funktioniert. Asylpolitik ist zu Recht europäisch geregelt; Asylpolitik funktioniert nicht national. Nur wenn die europäischen Staaten gemeinsam eine Lösung finden, lassen sich in dieser Frage nicht nur Humanität, sondern auch Ordnung auf dem europäischen Kontinent herstellen. Es ist doch naiv, Herr Merz, zu glauben, dass die anderen europäischen Staaten, wenn Deutschland seine Grenzen schließt, so wie Sie das vorgeschlagen haben, einfach zuschauen und gar nichts machen. Schauen Sie sich nur die – übrigens berechtigten – Reaktionen von Polen, Österreich und Tschechien an, die in den letzten Tagen vermehrt Grenzkontrollen durchgeführt haben. Der Vorschlag der Union würde im Kern dazu führen, dass in der europäischen Asylpolitik gar nichts mehr funktioniert. Kein Land würde noch Dublin-Rückstellungen akzeptieren, wenn wir unsere Grenzen schließen. Kein Land würde noch an den europäischen Außengrenzen Registrierungen durchführen, wenn eine faire Verteilung in der Europäischen Union nicht mehr funktioniert. Es gäbe ein absolutes Chaos. Das wäre das Ende jeglicher Regulierung, und die Geflüchteten wären trotzdem da. So ein Vorschlag kann den Kern der Europäischen Union kaputtmachen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Weiß die FDP davon?)
Der Kern der Europäischen Union ist die Zusammenarbeit zwischen Staaten statt nationaler Alleingänge. Das sind Kooperation und Freundschaft in der festen Überzeugung, dass man Herausforderungen zusammen besser lösen kann. Ich bin aufgewachsen in einem Europa, das sich immer mehr auf diesen Weg gemacht und an die Idee der Zusammenarbeit geglaubt hat. Ich bin aufgewachsen in einem Europa, das seine Grenzen immer weiter geöffnet hat, statt sie zu schließen, in einem Europa, in dem ich schneller von Köln nach Brüssel fahren kann als nach Berlin, weil ich eben nicht irgendwo an der Grenze stehe, in einem Europa, das gemeinsam zu Wohlstand gekommen ist, weil es auf Zusammenarbeit setzt, statt Lkws in kilometerlangen Staus auf den Autobahnen zu blockieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Und ich bin in einem Deutschland aufgewachsen, in dem es eine CDU gab, die an diese Idee geglaubt hat. Mit dem Vorschlag, den Sie hier machen, Herr Merz, verabschieden Sie sich nicht nur von der Politik von Angela Merkel. Sie verabschieden sich damit auch von der Politik von Helmut Kohl und Konrad Adenauer, und zumindest wir werden das nicht zulassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben großes Glück: Wir vertreten ein Land und eine Gesellschaft, auf die wir vertrauen können.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Aber den Grünen vertraut niemand!)
Diese Gesellschaft hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass sie gerade in Krisen in der Lage war, zu differenzieren, dass sie gerade in Krisen in der Lage war, Solidarität zu zeigen, und dass sie gerade in Krisen in der Lage war, Populismus und vernünftige Vorschläge voneinander zu unterscheiden.
(Zuruf der Abg. Carolin Bachmann [AfD])
Ich kann nur an uns als Abgeordnete des Deutschen Bundestages appellieren: Lassen Sie uns die Politiker sein, die dieses Land auch vernünftig repräsentieren!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Als Nächster hat das Wort für die FDP-Fraktion Christian Dürr.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 184 |
Tagesordnungspunkt | Bundeskanzler und Bundeskanzleramt |