Corinna RüfferDIE GRÜNEN - Finanzielle Belange der Menschen mit Behinderung
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Lieber Herr Tebroke, mich hat überzeugt, was Sie gesagt haben, und ich verstehe das als Angebot. Sie haben gesagt: Wir haben drei Vorschläge herausgegriffen, die wir für regelbar und auch für wichtig halten. Es sind nicht viele Fälle, und es bewegt nicht ganz viel; aber den Leuten, die betroffen sind, hilft das immens weiter. – Deswegen, glaube ich, sollten wir über diese Vorschläge diskutieren und weitere Vorschläge sammeln.
Wir haben hier ja eine geteilte Zuständigkeit: Ich sitze im Ausschuss für Arbeit und Soziales, Sie im Finanzausschuss. Eigentlich müssten sich auch viele andere Ausschüsse mit der Frage beschäftigen: Wie können wir Inklusion stärken? Wie können wir für Menschen mit Behinderungen endlich die gleiche und volle Teilhabe in dieser Gesellschaft gestalten? Das können wir nicht versäult diskutieren; das müssen wir miteinander diskutieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Ich glaube, in einem Ausschuss versteht man das am allerbesten. Ich war am Montag in Bremen bei der Tagung der Vorsitzenden der Petitionsausschüsse der Länder und des Bundes. Der Vorsitzende aus Bremen hat berichtet, was ich noch nicht wusste, nämlich dass Herbert Wehner – das liegt etwas zurück, aber er war sehr lange Mitglied dieses Hauses, nämlich von 1949 bis 1983 –
(Carlos Kasper [SPD]: Guter Mann!)
durchgehend in einem Ausschuss saß. Und in welchem, Manuela, Beate? Im Petitionsausschuss.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Und warum hat er das gemacht? Weil er wissen wollte, was den Menschen unter den Nägeln brennt. Und die häufigsten Themen, die dort bei uns aufschlagen, betreffen Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Familien und die Systeme; denn sie verzweifeln an der kafkaesken Situation.
Ich muss sagen: Mich hat interessiert, wer Herbert Wehner war. Ich weiß, dass er immer wild dazwischengerufen hat; mit 58 Ordnungsrufen ist er diesbezüglich immer noch an der Spitze der Bewegung.
(Stephan Brandner [AfD]: Nicht mehr lange!)
Aber dann habe ich mir seine Biografie angeschaut und überlegt, welche Zeiten dieser Menschen erlebt hat. 1906 geboren, hat er erlebt, wie das Massenmorden an Jüdinnen und Juden in diesem Land zuerst an behinderten Menschen erprobt worden ist. Er ist eine Legende. Das, was er zum Teil erlebt hat, möchte niemand von uns erleben. Und ich bin sehr, sehr dankbar, dass ich das nur noch historisch nachvollziehen muss. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht wieder in diesen Strudel hineingeraten. Er hat in seinem Leben aber auch erlebt – und das finde ich interessant –, wie sich die Geschichte zum Besseren entwickeln kann. Er hat miterlebt, wie in Deutschland eine Behindertenbewegung entstanden ist, wie sich in Bremen die ersten Rollifahrenden an die Gleise der Straßenbahn geheftet und gesagt haben: Wir wollen nicht hinterherwinken, sondern in den Straßenbahnen mitfahren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Wir wollen mitmachen. Wir wollen in die normalen Schulen gehen. Wir wollen in der Gemeinde leben. Wir wollen nicht in Sonderwelten weggeschoben, wir wollen nicht exkludiert werden.
Dazu muss ich Ihnen jetzt etwas sagen. Stephanie Aeffner – sie muss heute ein wichtiges Gesetz verhandeln und ist deshalb nicht anwesend – sitzt im Rollstuhl. Auch der ehemalige Abgeordnete Ilja Seifert, der verstorben ist, saß im Rollstuhl. Er musste damit leben, sich nicht darauf verlassen zu können, die Deutsche Bahn nutzen zu können. Stephanie Aeffner muss das bis heute. Im Zweifelsfall wird sie stehengelassen, weil das Klo nicht funktioniert, weil der Aufzug nicht funktioniert, weil die Bahn nicht einsieht – das hätte sie seit Jahrzehnten tun müssen –, dass ihre Beförderungsverpflichtung auch für behinderte Menschen gilt in diesem Land. Das ist ein Skandal und so was von peinlich. Und das verweist auf die eigentliche Aufgabe, die wir vor uns haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ihre Vorschläge sind kleinteilig, zum Beispiel beim Persönlichen Budget. Da geht es vor allen Dingen um Anbieter, die 75 Prozent ihrer Leistungen im Persönlichen Budget erbringen und den Rest in Sachleistungen; die müssen Umsatzsteuer abführen. Das ist eine völlig unsinnige Regelung. Das Persönliche Budget ist deshalb ein wertvolles Instrument, weil es den Betroffenen Selbstbestimmung gewährt, weil es ihnen die Möglichkeit gibt, über ihre Lebensumstände vollumfänglich frei entscheiden zu können. Ich halte die Zweckgebundenheit für ein Innovationshemmnis und eigentlich auch für eine Menschenrechtsverletzung. Das Geld sei zweckgebunden, haben Sie gesagt; die Menschen bekommen es zweckgebunden. Es dann aber in die Umsatzsteuerpflichtigkeit hineinzunehmen, halte ich für völlig falsch. Insofern ist Ihr Vorschlag ein guter Vorschlag, der vielen Menschen hilft und potenziell auch noch mehr Menschen hilft als heute.
Über das Kindergeld, glaube ich, kann man noch grundsätzlicher reden. Ich habe, ehrlich gesagt, ein ungutes Gefühl, wenn Menschen mit Behinderung lebenslang Kindergeld beziehen. Das vermittelt ein komisches Bild. Vielleicht müssen wir mal darüber reden, wie wir diese Leistung in anderer Weise den Menschen zukommen lassen können, und sollten nicht so tun, als seien behinderte Menschen ein Leben lang Kinder
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
und nicht in der Lage, Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Also, die Fragen sind extrem tiefgreifend.
Die Befreiung von der Kfz-Steuer bzw. die Ermäßigung ist auf den ersten Blick ein Beitrag zur Entbürokratisierung und natürlich auch eine Kostenentlastung. Warum soll eine Familie, die als Gemeinschaft miteinander lebt, das Auto neben dem Transport der schwerbehinderten Person nicht auch für Einkaufsfahrten etc. nutzen dürfen? Und wer soll das am Ende des Tages überhaupt kontrollieren? Über diese Regelung sollten wir noch mal diskutieren und zusammenzukommen, über die Säulen hinweg.
Ich war vorhin bei einer Veranstaltung, bei der ganz viele Familien mit beeinträchtigten Kindern versammelt waren. Ich kann Ihnen sagen: Diese Familien leiden nicht unter ihren behinderten Kindern, aber sie leiden unter der Ignoranz dieser Gesellschaft. Sie wollen unsere Unterstützung. Und dafür brauchen wir das gesamte Parlament, aber auch die gesamte Regierung. Ich fände es super, wenn wir das gemeinsam anpacken.
Danke für den Antrag.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Für die FDP-Fraktion hat das Wort Jens Beeck.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carlos Kasper [SPD])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7615427 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 187 |
Tagesordnungspunkt | Finanzielle Belange der Menschen mit Behinderung |