26.09.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 188 / Tagesordnungspunkt 15

Sonja EichwedeSPD - Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim BGH

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!

(Stephan Brandner [AfD]: „Deutsche demokratische Altfraktionen“ heißt das!)

Sehr geehrter Herr Plum, wir ringen stets darum, wie wir unseren Rechtsstaat, wie wir unsere Justiz besser aufstellen können. Aber bei Ihrer Rede hatte ich in manchen Teilen den Eindruck, dass wir tatsächlich unterschiedlichen Sachverständigenanhörungen beigewohnt haben; denn es herrschte die einhellige Meinung, dass man ein Leitentscheidungsverfahren braucht. Es wurde sehr intensiv darüber diskutiert, was mit der Aussetzung zu tun ist,

(Zuruf des Abg. Dr. Martin Plum [CDU/CSU])

und genau darauf haben wir als Deutscher Bundestag reagiert. Sie als Union haben entweder nicht zugehört oder nicht begriffen, wie wichtig es ist, dass wir ebendieses Verfahren jetzt einführen.

(Katharina Willkomm [FDP]: Nicht begriffen!)

Schneller in den Entscheidungen, effizienter in der Ressourcennutzung, modern und digital in den Verfahren – wir wollen und müssen dem Rechtsstaat und unserer Justiz bestmöglich den Rücken stärken. Mit dem Leitentscheidungsverfahren bringen wir heute einen weiteren wichtigen Baustein ein, ein wirksames Werkzeug, um Massenverfahren besser begegnen zu können. Es ermöglicht dem Bundesgerichtshof, ein anhängiges Verfahren für eine Leitentscheidung zu bestimmen, wenn die Entscheidung für viele gleichgelagerte Fälle einen Vorbildcharakter haben kann.

Als Richterin konnte ich insbesondere bei den Dieselverfahren ein Lied davon singen.

(Stephan Brandner [AfD]: Sie waren die Richterin?)

Landauf, landab wurden an Gerichten über Jahre Tausende Abgasfälle verhandelt. Die Gerichte wurden damit geflutet. Hunderte Seiten Schriftsätze, unzählige Stunden Arbeit, Verhandlungen im 30-Minuten-Takt, in denen oft nur Unterbevollmächtigte und Terminsvertreter saßen, die die Akten nicht kannten und auch keine Prokura hatten, um Vergleiche zu schließen. Das war keine gute Situation für den Rechtsstaat. Wir haben wieder und wieder fast deckungsgleiche Urteile abgesetzt, die kurz darauf angefochten wurden, bevor dann kurz vor Urteilsfindung der nächsten Instanz doch ein Vergleich geschlossen wurde, damit es ja nicht zu einer höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt. Das war ein unhaltbarer Zustand. Die Richterinnen und Richter im Dieselabgasskandal wurden zu Durchlauferhitzern. Besonders frustrierend war, dass wegen der sich entlang der Massenverfahren aufbauenden Klageindustrie nicht mehr im Sinne der Kläger und auch nicht im Sinne des Rechtsstaats gehandelt werden konnte. Deshalb müssen wir heute ein Mittel dagegen schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Katharina Willkomm [FDP])

Ich habe es zu Beginn angesprochen: Die im parlamentarischen Verfahren erreichten Änderungen sind für eine Vielzahl von Gerichten in Deutschland von hoher Relevanz. Das Gericht kann ein Verfahren aussetzen, ohne dass es der Zustimmung der Parteien bedarf, wie es noch im Regierungsentwurf vorgesehen war. Parteien sollen vorher angehört werden. Wenn wichtige Gründe dagegensprechen, dann soll die Aussetzung unterbleiben. Ja, Herr Plum, Richter hätten wahrscheinlich vorher schon so gehandelt, da man natürlich nach dem Besten für den Rechtsstaat schaut. Es war uns aber wichtig, dies im Sinne der Dispositionsmaxime noch mal zu betonen und zugleich im Interesse der guten Rechtsfindung den Weg dafür frei zu machen, dass man sich an einer Leitentscheidung des BGH orientieren kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Bruno Hönel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Hiervon werden die Landgerichte profitieren, weil sie dann auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zurückgreifen können, so wie der BGH von den vielen vorherigen Entscheidungen insbesondere der unteren Instanzen profitiert. Denn was auch wichtig ist: Wir haben in unserem System verankert, dass der Bundesgerichtshof auf die juristische Schwarmintelligenz der unteren Instanzen zurückgreifen kann. Gerade das wollten wir aufrechterhalten.

Es wurde ausgerechnet, unter anderem vom Bundesgerichtshof, dass mit diesem Verfahren beim Dieselabgasskandal circa zwei Jahre Zeit bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung hätten eingespart werden können. Das wäre für die Richterinnen und Richter wichtig gewesen. Beim nächsten Massenverfahren wird es möglich sein, Zeit einzusparen. Von daher ist es gut, dass wir die Justiz mit diesem Gesetz entlasten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Boris Mijatović [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Weil die Länge und die Dauer der Verhandlungen angesprochen worden sind, lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu anderen möglichen Verfahrensformen sagen, mit denen man Massenverfahren besser bewältigen kann. Wir haben uns reiflich überlegt, ob wir noch weiter gehen, ob wir schon im Rahmen dieses parlamentarischen Verfahrens ein Vorlageverfahren einführen wollen. Wir haben uns dagegen entschieden, auch aus großem Respekt vor der Verfahrensordnung, vor der Zivilprozessordnung, die seit bald 150 Jahren Ruhe, Sicherheit und Stabilität in der Prozessführung an den Gerichten unseres Landes sichert.

Bei einem Vorlageverfahren sind einfach zu viele Fragen offen, zumal wir die Vorlage nicht zusammen mit der Justiz hätten erarbeiten können, sondern sie quasi hinter verschlossenen Türen im Parlament hätten beschließen müssen. Wir brauchen ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren und ordentliche Diskussionen, um die Fragen zu klären: Welche Gerichte legen vor? Welche Fragestellungen sollen dann entschieden werden? Wie sieht das effektiv aus? Wie muss der Bundesgerichtshof darauf vorbereitet sein? Wie sollen die Verfahren ausgestaltet sein? Wie müssen die Gerichte ausgestaltet sein? – Das sind keine trivialen Fragen, und wir brauchen Zeit, um sie zu beantworten. Der Entschließungsantrag der Unionsfraktion beantwortet die entsprechenden Fragen nicht. Von daher kann diesem auch nicht zugestimmt werden. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Vielleicht stimmen Sie diesem guten und wichtigen Gesetz, das uns, wie gesagt, im Dieselabgasskandal eine Zeitersparnis von circa zwei Jahren gebracht hätte, ja doch zu, damit wir schneller zu höchstrichterlichen Entscheidungen kommen.

Ich danke den Berichterstattenden für die gute und konstruktive Zusammenarbeit bei dem heute vorliegenden, wichtigen Gesetzentwurf. Heute ist ein guter Tag für unsere Justiz, ein guter Tag für die Bewältigung von Massenverfahren. Von daher werbe ich hier um Zustimmung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vielen Dank. – Fabian Jacobi hat das Wort für die AfD.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7615736
Wahlperiode 20
Sitzung 188
Tagesordnungspunkt Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim BGH
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