10.10.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 191 / Tagesordnungspunkt 9

Till SteffenDIE GRÜNEN - Bundesverfassungsgericht (Änderung GG und BVerfGG)

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Geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Erfahrungen in Polen und in Ungarn haben uns alle nachdenklich gemacht. Wir waren erschrocken, wie leicht man Gerichte mit einer einfachen Mehrheit kapern kann. Marco Buschmann hat es gesagt: Das waren ja Staaten, die sich als liberale Demokratien vor 35 Jahren auf den Weg gemacht haben, die lernen konnten von all den Erfahrungen anderer liberaler Demokratien und die deswegen die Verfassungsordnung, die sie sich gegeben hatten, für verlässlich gehalten haben.

Aber was ist 2015 in Polen passiert? Es dauerte nur 14 Tage von der Gesetzesvorlage bis zur Unterzeichnung durch den Präsidenten. Damit wurde das Verfassungsgericht politisch auf Linie gebracht. Dieses Gesetz wurde also ganz schnell durchgepeitscht; so schnell ging das. Es wurden scheinbar harmlose Maßnahmen gewählt, um die Arbeitsfähigkeit des Gerichts zu behindern:

Zum Beispiel durch die Regel, dass das Gericht verpflichtet wurde, Verfassungsgerichtssachen in der Reihenfolge des Eingangs zu behandeln. Das bedeutet also: Wenn wirklich was Wichtiges anliegt, das mit Blick auf Wohl und Wehe des Staates zu entscheiden erforderlich ist, kann es nicht vorgezogen werden.

Zweites Beispiel. Es wurde das Quorum für Entscheidungen innerhalb des Gerichts nach oben gesetzt. Es konnte nur noch mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, was natürlich eine Garantie dafür ist, dass keine Entscheidung ergeht, die sich gegen Maßnahmen der Regierung wendet. Aber dafür sind Verfassungsgerichte ja da: die Regierung zu kontrollieren und einzugreifen, wenn die Regierung die Verfassung verletzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Wir waren immer überzeugt: Das Grundgesetz garantiert eine stabile Demokratie. Nun aber stellen wir mit dem Blick auf diese Erfahrungen fest: Was in Polen geschah, wäre auch bei uns einfachgesetzlich möglich. Unter den demokratischen Fraktionen reifte deswegen der Entschluss: Wir müssen unsere Gerichte, wir müssen das Bundesverfassungsgericht besser schützen. Wir zeigen mit diesen Gesetzentwürfen: Demokraten sind wehrhaft! Wir Demokraten sind nicht doof!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Auch in der Vergangenheit haben sich demokratische Fraktionen hier im Bundestag zusammengerauft, zum Beispiel bei der Ausgestaltung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Dadurch wird genau das verhindert, was in Thüringen passiert ist: dass bei der Konstituierung des Landtages eine Fraktion die ihr zufällig zugefallene Position des Alterspräsidenten dazu nutzt, demokratische Verfahren zu verhindern. Das konnte nur durchbrochen werden, weil es ein unabhängiges Verfassungsgericht gab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Clara Bünger [Die Linke])

Deswegen ist es so wichtig, dass wir sichern, dass dann, wenn in Parlamenten Antidemokraten an entscheidende Stellen kommen, Gerichte den demokratischen Prozess gewährleisten können.

Ich finde, dieses Gesetz ist ein positives Beispiel für konstruktive Zusammenarbeit zum Wohle der Demokratie insgesamt. Es gibt natürlich auch Beispiele, wo ich sagen würde: Na, da ist es vielleicht nicht ganz so gelungen.

Ich gönne jedem Wahlsieger seinen Wahlsieg, auch Herrn Woidke in Brandenburg. Natürlich hat er einen legitimen Wahlkampftrick angewendet und gesagt: Ich stehe hier ganz vorne gegen die AfD. – Aber das Ergebnis – okay, das haben alle für sich selber zu verantworten; gar keine Frage – ist unglücklich, weil die AfD jetzt genau über eine Sperrminorität verfügt, über die wir hier als strukturelles Problem sprechen.

(Zuruf des Abg. Fabian Jacobi [AfD])

Oder anderes Beispiel: Wenn man sich anschaut, wie der CSU-Vorsitzende fast schon in einer Manie gegen Grüne wettert, könnte man denken: Ja, das kann kurzfristig nutzen.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Vielleicht auch langfristig!)

Aber ich glaube, langfristig schadet das sogar der CSU selber.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Jochen Haug [AfD])

Um als Hamburger ein Bild aus der Seefahrt zu gebrauchen: Anstatt dass wir versuchen, uns gegenseitig von der Planke zu schubsen, sollten Demokratinnen und Demokraten

(Enrico Komning [AfD]: … einen sozialistischen Block bilden! Genau!)

gemeinsam an einem stabilen Schiff bauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU] und Katrin Helling-Plahr [FDP])

Gemeinsam bauen gilt auch hier: Wir müssen die Verfassung ändern – mit einer Zweidrittelmehrheit hier in diesem Hause und auch im Bundesrat; das gilt eben auch für die Zusammenarbeit mit dem Bundesrat. Da gibt es ja einige Vorschläge. Ich finde, sie sind bedenkenswert. Das sollten wir im Sinne einer breiten Einigung im Rahmen unseres Gesetzgebungsprozesses berücksichtigen.

(Enrico Komning [AfD]: Nationale Front voran!)

Dieser Antrag zeigt, dass die Kräfte, die sich zum Wohle der Demokratie trotz Unterschieden im Detail zusammenraufen können, in diesem Parlament immer noch sehr stark sind. Und wenn wir die künftigen Fragen, die zur Sicherung unserer Demokratie erforderlich sind, in diesem Sinne beantworten, dann habe ich keine Sorgen um unsere Demokratie.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und des Abg. Stefan Seidler [fraktionslos])

Ansgar Heveling für die Unionsfraktion ist der nächste Redner.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7616394
Wahlperiode 20
Sitzung 191
Tagesordnungspunkt Bundesverfassungsgericht (Änderung GG und BVerfGG)
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