Johannes ArltSPD - Bericht des Beauftragten für Ostdeutschland 2024
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ende dieser Debatte nehme ich Sie zu einem Blick auf zwei Karten aus dem diesjährigen Gleichwertigkeitsbericht mit.
Die erste Karte bildet die allgemeine Lebenszufriedenheit in Deutschland ab. Lebenszufriedenheit und -unzufriedenheit sind gleichmäßig verteilt, kein Bundesland sticht besonders hervor. Zweite Karte. Die Frage lautete: Wie lebt es sich in Ihrer Region im Vergleich zu anderen Regionen? Auf dieser Karte zeichnet sich deutlich das Gebiet der ehemaligen DDR ab. Die Menschen hier empfinden ihre Lebensqualität als deutlich schlechter als im übrigen Deutschland.
Daraufhin habe ich gestern meine Mutter angerufen – das ist immer eine gute Idee – und fragte sie: Mama, wie war das mit der Lebensqualität in der DDR? Sie sagte zwei interessante Sätze: Erstens. Ich will die DDR nicht zurück. Aber zweitens. Die Freude über wenige schöne Dinge dort hat einen Zusammenhalt hergestellt, den es im heutigen Überfluss nicht mehr gibt.
Dann fragte ich eine politische Weggefährtin, die innerhalb der Bewegung um die Wende aktiv war. Sie sagte mir: Wir sind in unserem eigenen Mief zwar fast erstickt. Aber trotzdem war das Leben in der DDR mit Betriebskindergarten, Schulspeisungen und einem kostenlosen Gesundheitssystem einfacher. Über viele Dinge musste man sich einfach keinen Kopf machen.
Was wir alle gemeinsam also verstehen müssen: Wenn Ostdeutsche über die DDR und die Einheit sprechen, meinen sie eben auch ihre Erfahrungen in der Nachwendezeit; Erfahrungen, die sich noch heute auf die empfundene Lebensqualität auswirken. Die Narben dieser Jahre des Systemwechsels sitzen in vielen Familien tief. Und so erscheint die geordnete DDR vor dem Hintergrund der 1990er-Jahre und in der Rückschau manches Mal positiver und von höherer Lebensqualität, als sie es tatsächlich war.
Meine Damen und Herren, nach der Euphorie der Emanzipation vom SED-Regime und dem mutigen Erkämpfen von Demokratie und Freiheitsrechten hat für viele Ostdeutsche subjektiv ein Wechsel von einer vermeintlichen Sicherheit in eine vermeintliche Unsicherheit stattgefunden. Dies resultiert in einem in Ostdeutschland verbreiteteren Gefühl des Abgehängtseins; einem Gefühl, das wir ernst nehmen sollten. Denn dies führt zu Demokratiekritik, zu Frustration und zu populistischen Einstellungen.
Das Gefühl, dass Politik sich über das Verteilen von Fördermitteln hinaus nicht für einen Landesteil und dessen Menschen interessiert, darf nicht entstehen.
(Beifall bei der SPD)
Auch der Eindruck, dass Erfahrungen und Meinungen der Ostdeutschen als Abweichungen von der gesamtdeutschen Norm betrachtet werden, darf in der Gesellschaft und auch im Bundestag nicht entstehen.
Meine Damen und Herren, unsere Einheit ist ein großer Schatz. Sie ist ein gesamtdeutscher Erfolg und kein ostdeutsches Problem. Diesen Erfolg dürfen wir nicht kleinreden, sondern sollten ihn bewusst als gesamtdeutsche Aufgabe im Herzen behalten.
Darum sollten wir zwei Dinge tun: Auch auf schwierige Fragen müssen wir Politiker und Politikerinnen empathische und verständliche Antworten finden,
(Lachen des Abg. Martin Reichardt [AfD])
die gesamtdeutsch Akzeptanz finden. So schließen wir eine Flanke und stoppen auch das Geschäftsmodell von Populisten. Und zu guter Letzt: Für viele Ostdeutsche ist die Wiedervereinigung emotional noch nicht abgeschlossen. Das sollten wir verstehen.
Wir sollten im Gespräch bleiben – das hilft meistens –, und zwar mit ehrlichem Interesse und der Bereitschaft, voneinander zu lernen. Denn auch nach 35 Jahren wissen wir viel zu wenig voneinander. Im Gespräch können sich dann auch Lösungen entwickeln und zum Beispiel ostdeutsche Lösungen zu gesamtdeutschen Lösungen werden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7616527 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 191 |
Tagesordnungspunkt | Bericht des Beauftragten für Ostdeutschland 2024 |