Paula PiechottaDIE GRÜNEN - 35 Jahre Mauerfall
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank an alle, dass diese Debatte möglich ist, diese Debatte zu 1989/90, die wir immer wieder führen müssen, nicht nur, weil diese Gesellschaft noch nicht diesen einen gemeinsamen Blick auf die Zeit damals hat, sondern auch, weil wir 1989/90 immer wieder mit Leben füllen müssen für die, die damals nicht bei der Erstürmung der Stasizentrale dabei waren, für die, die damals nicht mit über die Straßen Ostdeutschlands gelaufen sind, und auch für die, die das Unrecht des SED-Regimes nicht am eigenen Leib gespürt haben.
Für Menschen, die später geboren sind oder 1989 in einem Alter waren, dass sie sich heute nicht daran erinnern können, für die vielen Millionen Menschen, die nach 1989/90 überhaupt erst in die Bundesrepublik gekommen sind und einen Zugang zu 1989/90 finden müssen, und natürlich auch für die vielen Menschen in den alten Bundesländern, die damals zwar formal dabei waren, aber in ihrem eigenen Leben oft sehr wenig davon gespürt haben, wie historisch das war, was gerade passierte, für diese Menschen kann es wie eine Selbstverständlichkeit wirken, dass es diese deutsche Wiedervereinigung gab: Die DDR war ohnehin am Ende, der Ostblock war ohnehin am Ende, da brauchte es nur ein bisschen Gorbatschow und ein bisschen Helmut Kohl, und dann gab es die Wiedervereinigung. – Diese Sicht gibt es, und sie ist falsch. Aber wir müssen sie auch deswegen immer wieder ansprechen, weil man für das, was man als selbstverständlich empfindet, keine Dankbarkeit empfindet. Wie die Präsidentin gerade richtig gesagt hat: 1989/90 ist vor allen Dingen ein riesengroßer Grund, dankbar zu sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Manchmal muss man weit wegfahren, um diese Dankbarkeit zu spüren, zum Beispiel an die innerkoreanische Grenze. Wenn man da als Ostdeutsche steht, nach Norden schaut, die Berge mit Propagandalettern sieht, nordkoreanische Soldaten in abgewetzten Mänteln und Straßen, auf denen niemand fährt, dann denkt man: Verdammt, das hätte auch unser Schicksal sein können.
Wenn man sich die Reihe der Revolutionsversuche in Ost- und Mitteleuropa seit 1945 anschaut – den 17. Juni 1953 in der DDR, den Volksaufstand in Ungarn 1956, den Prager Frühling 1968, niedergewalzt von Panzern, die Streiks der Solidarność Anfang der 80er-Jahre und dann erst 1989/90 –, dann sieht man: Es ist nicht nur keine Selbstverständlichkeit, dass diese Revolutionsversuche friedlich sind, es ist auch keine Selbstverständlichkeit, dass sie erfolgreich sind. Wenn man die Demokratie einmal verloren hat, wie die Regionen des heutigen Ostdeutschlands 1933, kann es Dekaden dauern, bis die Demokratie zurück ist, und es kann auch mehr als eine Revolution brauchen, bis die Demokratie wieder zurück ist. Sich das bewusst zu machen, auch das kann einen dankbarer machen dafür, dass man heute Demokratie hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Mir wurde in der Grundschule immer versprochen, dass mit 1989/90 diese Geschichte endete. Wir wissen: Das stimmt nicht. Wenn wir 1989/90 in das einordnen, was danach an Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa kam – die sogenannten Farbrevolutionen: 2004 die Orange Revolution in der Ukraine, dann die Tulpenrevolution und 2014 der Euromaidan –, dann sehen wir: 1989/90 war nicht nur gefolgt von friedlichen Revolutionsversuchen. Vor allen Dingen erkennen wir ein weiteres Phänomen: Es reicht nicht, dass eine Revolution erfolgreich und friedlich ist; es ist durchaus auch relevant, ob sie politische Gegenwehr aus dem Ausland erzeugt – bis heute, in der Ukraine.
Auch dafür kann man dankbar sein: dass es genau diese Gegenwehr 1989/90 nicht gab, dass es für die deutsche Wiedervereinigung Unterstützung gab. Auch das war keine Selbstverständlichkeit, und auch dafür kann man große Dankbarkeit empfinden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Wir debattieren heute über den Epochenwechsel 1989/90, für den wir noch keine gemeinsame abschließende Einordnung haben, während wir knietief im nächsten europäischen Epochenwechsel stecken. Und da fragt man sich – die Präsidentin hat es angedeutet –: Was können wir eigentlich aus einer intensiveren Debatte über 1989/90 für das Hier und Jetzt und für vielleicht weisere Entscheidungen im Hier und Jetzt lernen?
Dazu gehört nicht nur, zu verstehen, was wir 1989/90 und in den Folgejahren bei unseren ost- und mitteleuropäischen Nachbarländern zu betrachten vergessen haben, sondern dazu gehört natürlich auch, sich anzuschauen, was diejenigen, die 1989/90 zu den großen Protagonisten gehört haben, wie Václav Havel im heutigen Tschechien, damals gelernt haben und uns mitgeben wollten, was in den letzten Jahren vielleicht ein bisschen verschüttgegangen ist, aber wert ist, wieder hochgeholt zu werden.
Václav Havel hat zum Beispiel gesagt: Ein Land, das nach innen auf Gewalt und Lügen beruht, das wird nicht nur seine eigenen Bürger unterdrücken, das wird auch in der Welt, nach außen, immer aggressiv agieren. – Wenn man sich das vor Augen führt, dann kann das vielleicht auch für uns heißen: Jedes Mal, wenn wir im eigenen Land gegen Gewalt und gegen Lügen agieren, vielleicht auch Nachbarländer dabei unterstützen, gegen Gewalt und gegen Lügen zu agieren, kann das immer auch ein Beitrag für mehr Frieden in der Welt sein.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Als Nächster hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Sepp Müller.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7617811 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 198 |
Tagesordnungspunkt | 35 Jahre Mauerfall |