Katrin BuddeSPD - 35 Jahre Mauerfall
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum beginnt ein Antrag unter der Überschrift „35 Jahre Friedliche Revolution“ mit dem 75. Jahrestag des Grundgesetzes? Weil im Jahr 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf der einen Seite und der Gründung der DDR auf der anderen Seite die Teilung Deutschlands für viele Jahrzehnte festgeschrieben wurde – und weil wir das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit seinen verbrieften Rechten auf Freiheit und die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik im Hinterkopf und vor Augen hatten, als wir mit Mut und Hoffnung im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es gab eine Idee, ein Vorbild, ein Ziel, einen gemeinsamen Willen in diesem Herbst, und der hieß: Wir wollen einen friedlichen Übergang von der kommunistischen Diktatur zu Demokratie und Selbstbestimmung.
Vieles und viele hatten in den Jahren und Jahrzehnten davor das Ihrige getan, dass es uns im Herbst 1989 endlich möglich und machbar erschien, etwas zu verändern: der Juni 1953 in der DDR, der Oktober 1965 in Ungarn, der Prager Frühling im August 1968, die Gründung der Solidarność 1980, Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, aber auch die vielen Menschen zu allen Zeiten in den Gruppen der Umwelt- und Friedensbewegung, zumeist unter dem Dach der Kirchen, und der Mut Einzelner, für Freiheit ihr Leben zu lassen, und in 1989 dann die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern über Ungarn, die Prager Botschaft und Polen.
Wir rüttelten im Herbst 1989 an den Mauern, die uns einschlossen. Und da machten wir auch vielen Angst, und zwar auch außerhalb der DDR; denn die Nachkriegsordnung war eine gefestigte Ordnung, und auf beiden Seiten hatte man sich damit arrangiert. Was würde denn passieren, wenn ein Steinchen aus dem Puzzle fiele und wie bei Tetris alles ins Rutschen käme – und noch dazu das deutsche Puzzlesteinchen? Damit, dass die Zivilgesellschaft das System destabilisieren würde, hatte niemand gerechnet. Und am Ende ist es ja auch so gekommen: Ganz Europa, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, hat sich verändert. Die Blöcke gibt es nicht mehr. Genau deshalb ist es richtig, dass über dem Antrag steht: „Epochenwechsel in Europa 1989/1990“.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielleicht auch deshalb, weil diese Dimension zu groß und zu unmöglich zu denken schien, stand am Anfang, im Herbst 1989, nicht die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten als Ziel ganz oben auf der Agenda. Am Anfang standen die Aufdeckung der Wahlfälschung, die Selbstdemokratisierung, die Begeisterung ganz vieler, dafür auf die Straße zu gehen und nicht mehr zu kuschen. Es waren Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die ihrer zunehmenden Unzufriedenheit über die Unfreiheit, den Mangel an Mitbestimmung, die desaströse wirtschaftliche und ökologische Lage immer stärker Ausdruck verliehen. Ich war in diesen Herbstwochen immer wieder überrascht über die Dynamik des Möglichen. Die runden Tische, die Erstürmung der Stasizentralen, das Dulden eigentlich in der DDR – wir lebten ja noch in diesem Staat – verbotener Parteien wie der Sozialdemokratie – es war wie ein Strom, der uns mitgerissen hat, in dem ganz vieles möglich wurde.
Aber das brachte auch ganz viel Verantwortung mit sich, zu strukturieren. Das war nicht mehr nur, gegen etwas zu sein, sich zu empören, aufzubegehren, da war ganz schnell die Pflicht, die Notwendigkeit, zu strukturieren, zu organisieren, geordnete Bahnen für Gespräche und Verhandlungen zu finden.
Und noch verrückter ist es, dass ich das hier heute zum großen Teil in der Ich-Form vortrage. Dabei sollten das doch eigentlich Zeitzeugen machen; denn Zeitzeugen, das sind doch schließlich alte, weise Menschen, die verschiedene Epochen erlebt haben, durchlebt haben und die von lange vergessenem Gestern erzählen. Aber es ist so verrückt: Ja, wir sind wirklich Zeitzeugen, Zeitzeugen einer noch jungen Vergangenheit. Und gleichzeitig gibt es jüngere Generationen, die mit unseren Erinnerungen gar nichts mehr anfangen können. Die gucken uns an, als ob wir vom Mittelalter reden.
Was auch zu unserer Geschichte der Jahre 1989/1990 gehört, ist, dass wir keine gemeinsame Erzählung zu dieser für uns alle so wichtigen Zeit mit ihren Geschehnissen und Ereignissen gefunden haben. Vielleicht können wir das auch nicht, weil wir in 1989 und 1990 aus so verschiedenen Milieus kamen. Oft wird die Friedliche Revolution nur als Vorgeschichte der deutschen Einheit angesehen, die dann dank des entschlossenen Handelns von Helmut Kohl und Westdeutschlands geschafft wurde. Der aktive Teil von uns Ostdeutschen wird übersehen, übergangen, übersprungen. Die Maueröffnung am 9. November wird als das Ereignis gesehen, das die Wiedervereinigung nicht nur auf die politische Tagesordnung gebracht hat, sondern auch schon auf den sicheren Weg, und das ist falsch.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für uns ist der 9. Oktober 1989 der wichtigste Tag, der entscheidende Tag. Überall in der DDR gingen in den Städten Demonstrantinnen und Demonstranten friedlich auf die Straßen. Das war das Signal, das alles später möglich machte – auch den 9. November, die Öffnung der Mauer.
Meine Damen und Herren, um die Wiedervereinigung zu verhandeln, brauchte es zum einen die Alliierten, aber es brauchte auch demokratisch legitimierte Verhandlungspartner in Ost und West. Wir brauchten eine freie, demokratische Wahl in der DDR, die dann ja auch im März 1990 stattfand. Der Weg zur deutschen Einheit führte über die Selbstdemokratisierung der Ostdeutschen und dann eine wirklich demokratische DDR.
Die Abgeordneten dieser demokratisch gewählten Volkskammer haben harte und gute Arbeit geleistet.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
In nicht mal sieben Monaten – bedenken wir, wie lange wir heute für Gesetze brauchen – mussten sie die kommunistisch geprägten Verhältnisse in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der DDR umgestalten und demokratisieren, die begonnene Entmachtung der Staatssicherheit konzeptionell vorantreiben, die Gewaltenteilung etablieren, die Strukturen der Rechtsstaatlichkeit schaffen, die Wiedererrichtung der Länder vorantreiben und den Einigungsvertrag verhandeln – eine Mammutaufgabe. Einige dieser Männer und Frauen, die die letzten Monate und Stunden der DDR und damit auch die deutsche Wiedervereinigung mitgestaltet haben, sitzen heute hier auf der Tribüne. Ich glaube, ihnen gebührt heute unsere Anerkennung.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und der Linken)
Dieser Prozess der verhandelten Einheit, in welchem wir Ostdeutsche Subjekte und Akteure waren, wird bis heute so gut wie nie angesprochen. Ich finde es ausgesprochen wichtig – auch für unser Selbstverständnis, für unser Selbstbewusstsein –, dies immer und immer wieder zu erzählen; denn die deutsche Einheit ist die Geschichte einer von uns verhandelten Einheit, als Selbstbestimmungsprozess von uns Ostdeutschen. Es gab keine Blaupause dafür. Und ja, selbstverständlich sind bei der Umsetzung des Einigungsvertrages Fehlstellen und Fehler sichtbar geworden. Aber wer werfe den ersten Stein bei einer solchen Jahrhundertaufgabe?
Meine Damen und Herren, es gehört heute – 35 Jahre danach – auch dazu, deutlich zu sagen, dass wir, die wir im Herbst 1989 an die Möglichkeit der Demokratisierung geglaubt haben, gehofft haben, gekämpft haben, uns aus tiefstem Herzen dagegen verwahren, dass unsere Hoffnung, unser Glaube, unser Kampf, unsere Arbeit heute missbraucht werden von antidemokratischen und rechtsnationalen Kräften.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Eine „Wende 2.0“, „die Wende vollenden“: Das ist schon deshalb falsch, weil es nie eine Wende gegeben hat, 1989 schon gar nicht. Es gab viel zu viele Wendehälse; das ist richtig. Aber von einer Wende hat ausschließlich Egon Krenz geredet.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD)
Was es gab, war eine Selbstdemokratisierung von uns Ostdeutschen.
Umso schlimmer ist es, zu sehen, dass heute nahezu Weimarer Verhältnisse in den ostdeutschen Bundesländern, in denen gerade gewählt wurde, herrschen.
(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ach du liebes bisschen!)
Lassen Sie uns von den demokratischen Parteien gemeinsam daran arbeiten, dass dies nicht so bleibt!
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Die SED spricht! Das ist SED-Sprech!)
Und lieber Sepp Müller, die letzte Sekunde deiner Rede war einfach nur billig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Als Nächster hat das Wort für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7617815 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 198 |
Tagesordnungspunkt | 35 Jahre Mauerfall |