08.11.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 198 / Tagesordnungspunkt 23

Linda TeutebergFDP - 35 Jahre Mauerfall

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Ehrengäste auf der Tribüne! Der 9. November 1989 war ein glücklicher Tag für uns Deutsche, ein glücklicher Tag für die freie Welt. Die Bilder, die wir davon in Erinnerung haben und auch heute noch in Dokumentationen sehen können, zeigen erwachsene Menschen, die in Tränen ausbrechen, vor Glück und Erleichterung – ein Gefühlsstau bricht auf. Ein Ende von Teilung, Unfreiheit, Willkür, Demütigung, der Trennung von Familien: All das ist Anlass zur Freude und Dankbarkeit.

Heute vor 35 Jahren, am 8. November 1989, fand im Bundestag in Bonn eine Debatte statt zum Tagesordnungspunkt „Erklärung der Bundesregierung: Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“. Nicht erst bei dieser Debatte im Jahr 1989 stand eine Frage unausgesprochen im Raum: Wen schmerzt noch Deutschlands Teilung? – Viele hatten sich abgefunden mit der Teilung unseres Landes, und manche haben sie nie als schmerzlich empfunden. Wenige hielten am Ziel der deutschen Einheit fest, und sie wurden dafür nicht selten verlacht und diffamiert.

Historisch-moralisch aufgeladen wurde das auch noch von einigen in der Selbstgerechtigkeit, dass für die dunklen Kapitel unserer Geschichte, derer wir auch gedenken am 9. November – vor allem dem von 1938 –, die Landsleute im Osten in erster Linie zu zahlen haben und hinter dem Eisernen Vorhang auf ihre Selbstbestimmung gern verzichten sollten. Aber da sage ich: „Die SED-Diktatur war brutal, nicht kommod“, um zum Beispiel Günter Grass zu widersprechen.

Als Brandenburgerin bin ich froh, dass damals die Regierung Kohl/Genscher festgehalten hat am Ziel der freien Selbstbestimmung für alle Deutschen, an der einen deutschen Staatsangehörigkeit und an der Einbettung von beidem in eine europäische Friedensordnung, in EU und NATO.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das war die Voraussetzung.

Vor dem 9. November kam der 9. Oktober. Der Mut der Menschen, die in Leipzig am 9. Oktober auf die Straße gingen, beeinflusste und beeindruckte auch die Bundestagsabgeordneten in der erwähnten Debatte in Bonn. Wir können heute gar nicht mehr ermessen, welcher Mut dafür nötig war. Blutkonserven wurden eingelagert in den Krankenhäusern in Leipzig und Umgebung, Urlaubssperren für das medizinische Personal verhängt, Kampfgruppen, Polizei und NVA dort stationiert. Es gab Listen mit Internierungslagern für Oppositionelle.

Und China war nicht fern; die Menschen in der DDR hatten die Bilder vom Tiananmen-Platz vor Augen. Und Egon Krenz hatte ihnen auch öffentlich angekündigt, dass man nicht zögern werde, ähnlich vorzugehen. Deshalb müssen wir heute auch sagen: Dass die Panzer nicht ausrückten, hat mehr mit dem NATO-Doppelbeschluss als mit Egon Krenz zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Daniel Föst [FDP]: So ist es!)

Stasi und Mauer waren nämlich kein Betriebsunfall, sie waren Existenzbedingungen dieser Diktatur und des Sozialismus. Und es war eine friedliche Revolution, keine Wende. Wir sollten die Framings der SED nicht reproduzieren, sondern uns von ihnen emanzipieren, liebe Kollegen.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist keine Wortklauberei. Ein politischer Kurswechsel im System der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist etwas grundsätzlich anderes als die Überwindung eines Systems, nämlich einer Diktatur. Es ist ein Unterschied ums Ganze.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es geht dabei um nicht weniger als den antitotalitären Konsens. Deshalb sollten wir in der Beurteilung der SED-Diktatur übrigens auch nicht hinter die Klarheit zurückfallen, die 1994 der Deutsche Bundestag in einem Entschließungsantrag zum Abschluss der ersten Enquete-Kommission zum Charakter dieser Diktatur festgestellt hat.

Und weil 1989 nicht Ende, sondern Wiederbeginn der Geschichte war, ist es auch wichtig, dass wir die Bedeutung unserer Erinnerungskultur für die Systemfrage sehen. Bei Deutungskämpfen um die Geschichte geht es um die Systemfrage. Putin und andere Feinde der Freiheit nutzen Geschichte taktisch, und dass an die Tage im Juni 1989 in Peking heute immer noch nicht erinnert werden darf – so wie in der DDR nicht an den 17. Juni 1953 erinnert werden durfte –, ist Zeichen dessen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gerade weil wir wieder Geschichte erleben und unsere Demokratie unter Druck steht, ist es auch wichtig, dass wir – neben der Verteidigung gegen ihre Feinde – sie positiv ausfüllen, ihre Vorzüge mit Leben erfüllen und deshalb zum Beispiel eine Debattenkultur pflegen, die ein Standortfaktor für liberale Demokratien ist, dass wir selbst nicht geschichtsvergessene Vergleiche ziehen. Ich nenne hier nur drei Beispiele:

Natürlich, wer von einer „Coronadiktatur“ spricht, statt sachlich Kritik zu üben, die man zu Recht an manchen Grundrechtseingriffen üben konnte, der verharmlost echte Diktaturen.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Geschichtsvergessen ist aber auch – ich erinnere an die Debatte von gestern –, wer die Nichtgewährung von Fördergeldern mit Zensur gleichsetzt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der verhöhnt die Autoren und Künstler, die von Zersetzung, Berufsverbot, Haft und vielem anderen betroffen waren.

Und nicht zuletzt: Auch die deutsche Teilung in migrationspolitischen Debatten zu instrumentalisieren und so zu tun, als entspräche dem wichtigen Menschenrecht auf Flucht, auf Ausreise aus dem eigenen Land, das jeder Mensch hat, auch ein Recht auf Einreise in ein selbstgewähltes Land, ist geschichtsvergessen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der AfD)

Die Flüchtlinge in der Prager Botschaft waren Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, liebe Kollegen, und das ist auch ein wichtiger Fakt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der AfD und des Abg. Kassem Taher Saleh [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir sollten heute, um unsere Demokratie zu stärken und die Freiheit zu verteidigen, gemeinsam außen- und sicherheitspolitisch erwachsen werden. Viele Dinge wie Sonderwegsromantik, Antiamerikanismus oder auch Arroganz gegenüber Mittel- und Osteuropäern gibt es in Ost- und Westdeutschland. Ich habe beobachtet, dass es für diese Ideen sogar Schwerpunkte in der Region Hannover und im Saarland gibt.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der AfD)

Mit Saarländern haben wir in der DDR schlechte Erfahrungen gemacht, und auch ich bin froh, dass Oskar Lafontaine in der Bundesrepublik nicht mehr zu sagen hatte, als er es hatte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD])

Die Westbindung dieser Bundesrepublik wird gesichert durch Bundesregierungen, die dazu stehen und als verlässliche Partner in EU und NATO wahrgenommen werden, nicht durch Nebenaußenpolitik von Ministerpräsidenten. Das sage ich auch mit Blick auf Herrn Woidke und Herrn Kretschmer und Herrn Voigt. Es ist selbstverständlich richtig: Wir sollten mehr auf Polen und Balten hören. Das ist aber das Gegenteil dessen, was das BSW will.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb sollten wir uns eher von dem Mut der Polen, die auch schon unsere Friedliche Revolution im Osten Deutschlands inspiriert haben, die auf den Papst und seine Ermutigung „Fürchtet euch nicht!“ gehört haben, inspirieren lassen. Die Welt braucht den normativen Westen – wertegebunden, sensibel, robust und wehrhaft –, und wir als Bundesrepublik Deutschland gehören in diesen Westen.

Wir stehen heute wieder in einer Systemauseinandersetzung, und wir müssen uns entscheiden. Wir wählen und verteidigen die Freiheit.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Albrecht Glaser [AfD] – Daniel Föst [FDP]: Bravo!)

Als Nächste hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Christiane Schenderlein.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7617817
Wahlperiode 20
Sitzung 198
Tagesordnungspunkt 35 Jahre Mauerfall
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