08.11.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 198 / Tagesordnungspunkt 23

Thomas HackerFDP - 35 Jahre Mauerfall

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Ehrentribüne! Es gibt sie noch, diese Tage oder Wochen, in denen sich Geschichte dramatisch verändert, in denen wir das Gefühl haben, die Zeit steht still oder rast im Zeitraffer. Es sind die Tage, an die wir uns erinnern – ein Leben lang. Vielleicht werden wir rückblickend auch diese Woche als so einen Moment einstufen; wer weiß.

Das Jahr 1989 war so ein Jahr, in dem sich die Geschichte überschlug. Menschen hatten es satt, in einem Unrechtsregime zu leben, unterdrückt und ausspioniert zu werden, keine freien Entscheidungen über den eigenen Beruf, über das eigene Leben treffen zu können. Sie wollten nicht länger still sein, nur um keine Nachteile zu erleiden. Sie wollten reisen, sie wollten Mitbestimmung, sie wollten Demokratie, sie wollten Freiheit.

Die Bürgerinnen und Bürger der DDR organisierten sich in Umwelt- oder kirchlichen Gruppen, im Neuen Forum, dem Demokratischen Aufbruch. Runde Tische entstanden. Polen war Vorbild. Die Menschen gingen auf die Straße, nicht nur einmal, immer und immer wieder und immer mehr: in Plauen, Dresden, Berlin, Leipzig und so vielen anderen Orten.

Menschen verließen die DDR. Sie flüchteten nach Ungarn, in die Tschechoslowakei. Ungarn zerriss als Erstes den Eisernen Vorhang. Hans-Dietrich Genscher verkündete den jubelnden Menschen in Prag die Ausreise. Wir alle jubelten und weinten.

Dann kam der 9. Oktober. In Leipzig wurden Gerüchte gestreut: Geht nicht auf die Straße. Heute rollen die Panzer. Heute fallen Schüsse. – Unsicherheit, Angst, Einschüchterung, und doch kamen die Menschen. Sie strömten herbei, sie riskierten ihr Leben für die Freiheit. Es blieb ruhig: Gott sei Dank keine Schüsse, keine Panzer.

Der Rest ist Geschichte. Das politische System der DDR kollabierte, Honecker wurde abgelöst, Schabowskis Zettel und damit die Reisefreiheit. Die Mauer fiel, eingedrückt von innen heraus.

Die Bürger der DDR eroberten sich Stück für Stück ihre Rechte und ihre Freiheit. Parteien wurden gegründet, Wahlprogramme geschrieben, und endlich gab es freie Wahlen. Zum ersten Mal standen die Ergebnisse der Volkskammerwahlen nicht schon vorher fest. Zum ersten Mal gab es einen Wettbewerb von Parteien und Programmen statt der Sozialistischen Einheitspartei.

Die frei gewählte Volkskammer wählte eine Regierung. In kürzester Zeit wurden Gesetze verabschiedet, der Rechtsstaat aufgebaut, das Wirtschaftssystem verändert, internationale Verhandlungen geführt und Verträge abgeschlossen – eine Mammutleistung!

Die frei gewählte Volkskammer und die frei gewählte Regierung der DDR beschlossen die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, den Zwei-plus-Vier-Vertrag, den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die deutsche Einheit war Wirklichkeit – endlich.

Die Wiedervereinigung war nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht selbstverständlich. Sie war möglich, weil die Freiheitsbewegungen die Welt veränderten, weil es Vorkämpfer gab: die polnische Solidarność; Glasnost und Perestroika ließen endlich Freiheit zu. Die Wiedervereinigung war aber vor allem deswegen möglich, weil die Menschen in der DDR und in der BRD die Einheit beider deutscher Staaten wollten. Die anfänglichen Rufe auf den Straßen „Wir sind das Volk!“ erkämpften Bürgerrechte und Demokratie. Bald mischten sich die Rufe „Wir sind ein Volk!“ darunter: das Bekenntnis zu Einheit und Wiedervereinigung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Demokratie ist nicht die einfachste Staatsform. Ideen entwickeln, andere überzeugen, Mehrheiten organisieren: Das kann lange dauern und uns alle quälen. Die Bürgerinnen und Bürger sehen oft nur den schweren Prozess der Mehrheitsfindung und übersehen das gute Ergebnis am Ende.

Prozess und Ergebnis müssen erklärt werden, immer wieder. Tun wir das nicht, wachsen die Ränder im System. Wir müssen das Gemeinsame suchen, gerade in diesen Zeiten, gerade in diesem Haus. Dann können wir glühenden Herzens einstimmen in die Rufe auf den Straßen der DDR: „Wir sind das Volk!“ Und vor allem: „Wir sind ein Volk!“

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für die Unionsfraktion hat das Wort Michael Frieser.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7617822
Wahlperiode 20
Sitzung 198
Tagesordnungspunkt 35 Jahre Mauerfall
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