Michael Kellner - 35 Jahre Mauerfall
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor 35 Jahren, am 4. November 1989, strömten Hunderttausende in die Mitte Berlins, zum Alexanderplatz. Sie wollten für Demokratie ihre Stimme erheben. Welcher Kontrast zum Sommer in Peking, wo Panzer Demonstranten zermalmten!
Wer in die Reden des 4. November 1989 hineinhört, bemerkt eine unglaubliche Energie. Christa Wolf sprach:
„Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: ‚Demokratie jetzt oder nie!‘“
Marianne Birthler fasste den Mut wie folgt zusammen:
„Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt.“
Hoffnung, die noch im Oktober niedergeknüppelt wurde.
Die Friedliche Revolution und die schnelle Wiedervereinigung wären ohne die Ereignisse in unseren osteuropäischen Nachbarländern nicht möglich gewesen. Ohne die Solidarność in Polen, die mit mutigen Protesten vorangegangen ist, ohne die Grenzöffnung in Ungarn, ohne die Möglichkeit für die Botschaftsflüchtlinge, aus der Prager Botschaft auszureisen, hätte die Geschichte anders verlaufen können. Daher stehen 35 Jahre Friedliche Revolution auch für eine Solidarität mit unseren Nachbarländern. Die Idee von Freiheit, wir lassen sie nicht im Stich: in Ungarn nicht, im Baltikum nicht, in Georgien nicht, in der Moldau nicht und in der Ukraine nicht. Daran erinnern wir heute auch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Schauen wir auf die Bilder vom Herbst 1989, sehen wir neben den Menschen voller Hoffnung ein Land, welches am Ende war: politisch, ökonomisch und ökologisch. Der Epochenwechsel in Europa war für unser Land, für die Deutschen in Ost wie West ein großes Glück. Die Umweltkatastrophe ist geheilt worden, vom Silbersee über Trabbiabgase bis hin zu den ehemaligen Wismut-Halden. Ökonomisch steht Ostdeutschland viel besser da: starker Mittelstand, hochinnovative Forschungslandschaft, Optikcluster Jena, Silicon Saxony, Grünheide. Der Chemiepark Leuna macht sich auf ins fossilfreie Zeitalter.
(Sepp Müller [CDU/CSU]: Insolvenzen! Kurzarbeitergeld! Entlassungen! Hohe Energiepreise! Betriebsschließungen!)
– Herr Müller, Sie schreien jetzt schon wieder rein. Ich wollte eigentlich nichts dazu sagen. Man kann und darf die Wirtschaftspolitik der Ampel kritisieren – gerne, –
(Sepp Müller [CDU/CSU]: Man muss das! Man muss das kritisieren, was Sie machen!)
aber dass Sie die Debatte zur deutschen Einheit dazu nutzen,
(Sepp Müller [CDU/CSU]: Man muss das!)
die Situation heute mit der in der DDR gleichzusetzen, finde ich beschämend.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Herr Müller, Sie missbrauchen diese Debatte für einen ganz billigen Punkt. Es tut mir leid, ich wollte nichts dazu sagen, weil ich es so entwürdigend und beschämend für all die Revolutionäre finde. Aber dass Sie wieder dazwischenbrüllen, finde ich einfach unerträglich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Sepp Müller [CDU/CSU]: Sprechen Sie doch mal mit den Menschen vor Ort!)
Heute ist Ostdeutschland ein moderner Wirtschaftsstandort. Dort, wo man früher über zehn Jahre auf ein Auto warten musste, stehen die modernsten Automobilwerke Europas. Vieles ist erreicht worden; aber manches ist weiterhin zu tun. Die Repräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen ist in vielen Bereichen beschämend niedrig. Rechtlich brachte die Einheit auch Rückschritte, wie unter anderem bei der Selbstbestimmung der Frau oder beim § 175, der Verfolgung Homosexueller, welcher erst 1994 gestrichen wurde.
35 Jahre später sehen wir, dass sich die Welt weiter verändert. Es gibt einen brutalen Krieg in Europa; wir sehen massive nationalistische, antidemokratische Tendenzen. Mit Blick auf die letzten Wahlen in Ostdeutschland sehen wir unsere Demokratie unter Druck.
(Beatrix von Storch [AfD]: So ein Schwachsinn! Wählerverachtung!)
Deswegen will ich am Ende meiner Rede an eine Innovation aus 1989 erinnern: die runden Tische. Dort haben sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Haltungen versammelt und gemeinsam an Lösungen gearbeitet. Ich würde mir den Geist dieser runden Tische für diesen Bundestag in den nächsten Wochen und Monate wünschen; daran möchte ich einmal erinnern.
(Sepp Müller [CDU/CSU]: Dann machen Sie mal den Weg frei für Neuwahlen! Wir brauchen jetzt Neuwahlen! Treten Sie zurück! Das ist nicht mehr auszuhalten!)
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Für die AfD-Fraktion hat das Wort Steffen Kotré.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7617824 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 198 |
Tagesordnungspunkt | 35 Jahre Mauerfall |