13.11.2024 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 199 / Tagesordnungspunkt 1

Petra Pau - Regierungserklärung zur aktuellen Lage

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf der Redeliste stehen die Namen von zwei Mitgliedern des Bundesrates. Ich bin kein Parteivorsitzender. Erwarten Sie also von mir bitte nicht einen ähnlichen Ton oder einen ähnlichen Inhalt,

(Dr. Joe Weingarten [SPD]: Gott sei Dank!)

sondern eine Stellungnahme aus Sicht eines Landes, von dem ich behaupten möchte: Die große Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen in der MPK würde das nicht ganz anders sehen.

Das fängt erst einmal mit einer einfachen Aussage an. Ich bedanke mich herzlich bei allen Mitgliedern der Bundesregierung einschließlich der nun ausgeschiedenen Mitglieder für ihre bis hierhin geleistete Arbeit unter schwierigen Bedingungen. Ich finde, das ist eine Frage des Anstands.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin mir bewusst, dass die Ampel in diesen schwierigen Zeiten zum Teil herausragende Arbeit geleistet hat, wenn ich zum Beispiel an das Management der Energiekrise denke. Das war richtig stark. Das darf man hier auch erwähnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Richtig ist aber: Spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse sind die inneren Widersprüche immer deutlicher geworden. Da brauchen wir jetzt, lieber Christian Dürr, keine Szenen einer Ehe mehr. Das kann man einfach so nüchtern konstatieren und damit den Blick vom Rückspiegel nehmen und wieder nach vorne richten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist sehr gut, dass wir jetzt über den Termin der Neuwahlen Klarheit haben. Ich bin ziemlich sicher, lieber Herr Merz: Sie sind gottfroh, dass Ihre Forderung nach einem Januartermin nicht realisiert wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das wäre, wer auch immer die nächste Bundesregierung bildet, vom ersten Tag an eine arge Belastung geworden; die hätte ich tatsächlich niemandem gewünscht. Der 23. Februar – das höre ich von den Verantwortlichen bei uns – ist sportlich, ambitioniert, aber er ist auch realistisch, und dann soll er es auch sein. Aber das Entscheidende ist nämlich etwas anderes: Lassen Sie bitte bis dahin keinen Stillstand aufkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dafür ist die Situation in unserem Land zu fragil. Denken Sie beispielsweise an die Umsetzung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik, die jetzt ansteht. Bitte vertagen Sie das nicht bis in den Frühling, oder wann auch immer wir eine neue Bundesregierung haben werden. Oder denken Sie an das Deutschlandticket. Es stimmt: Da haben wir Klärungsbedarf. Aber jetzt geht es um die weltbewegende Frage, ob nicht verausgabte Mittel des Jahres 2024 in das Jahr 2025 übertragen werden. Sie werden doch dieses Thema nicht durch die kalte Küche abräumen wollen. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hätte die Koalition längst entscheiden können!)

Und vor allem: Wenn man sich denn – so schien es jedenfalls verbal der Fall zu sein – einig ist, dass Handlungsbedarf besteht und dass es klarer Signale für unsere Industrieunternehmen bedarf, dann handeln Sie gemeinsam, und handeln Sie jetzt. Gehen Sie sofort ran an die Netzentgelte, und sorgen Sie dafür, dass sie gedeckelt werden. Das, meine Damen und Herren, wäre eine wesentlich überzeugendere industriepolitische Haltung als alle Reden, die in den nächsten Wochen noch folgen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt kommt es zum Wahlkampf. Dieser wird von harten Auseinandersetzungen gekennzeichnet sein. Jetzt geht es aber endlich nicht mehr um Termine, sondern um Themen. Aber es geht auch um die Art und Weise, wie das ausgetragen wird. Es mag ja sein, dass die Menschen in Deutschland in den unterschiedlichen Regionen total unterschiedlich ticken. Ich will es nicht ausschließen. Aber mir begegnen weit überwiegend Menschen, die genau spüren, was los ist. Sie spüren, dass wir in Deutschland vor einem großen Problembündel stehen. Sie haben überhaupt kein Interesse an hohlen Versprechungen. Und Sie haben auch überhaupt kein Interesse an Scheindebatten. Und Sie haben erst recht kein Interesse an politischem Schlammcatchen, lieber Markus Söder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie wollen, dass die politische Debatte über die Probleme der Bürgerinnen und Bürger geführt wird. Sie wollen einen Nutzwert dessen erkennen, was so hart miteinander ausgetragen wird.

(Beifall bei der SPD – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Die wollen keinen Ministerpräsidenten, der sich zum Büttel von Rot-Grün macht!)

Da gibt es Menschen, die arbeiten jeden Tag hart. Das sind im wahrsten Sinne des Wortes Leistungsträger.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie fragen sich: Warum kann ich mir eigentlich kaum noch etwas leisten? Diese Frage muss Politik beantworten.

Herr Ministerpräsident, Entschuldigung, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Middelberg?

Nein, ich würde gerne ausführen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Über Osnabrück können wir gerne später reden, Herr Kollege.

(Heiterkeit bei der SPD – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Wir können auch über VW reden!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Leistungsträger müssen das Gefühl haben: Wir, die Politik – ganz egal, auf welcher Ebene –, kümmern uns um sie. Aber sie sehen gleichzeitig auch, was noch alles geschehen muss. Sie sehen die riesigen Handlungsbedarfe, die in den nächsten Jahren von unserem Staat zu bewältigen sein werden, wenn das gut ausgehen soll. Wir wissen doch alle: Für die Bundeswehr muss mehr getan werden, und zwar viel mehr als im Sondervermögen zur Verfügung steht. Das wissen wir alle in diesem Haus.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen miteinander auch: Es bedarf jetzt Anreize zu Investitionen, damit unsere Wirtschaft wieder in eine Wachstumsphase eintreten kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und wir haben ein Gefühl dafür, welche öffentlichen Impulse notwendig sind. Und Sie fragen ganz schlicht: Wie wollt ihr das denn lösen? Entschuldigung, aber ich habe noch nicht verstanden, wie die Logik – keine Steuern erhöhen, keine Kredite aufnehmen, mehr Investitionen auslösen –

(Beifall des Abg. Michael Kruse [FDP])

aufgehen soll. Das widerspricht sämtlichen Grundrechenarten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gäbe nur eine einzige plausible Antwort, aber die unterstelle ich Ihnen gar nicht: Das wären beispiellose Einschnitte. Und das wäre dann tatsächlich ein Zusammenbruch des gesellschaftlichen Zusammenhalts; den können wir alle diesem Land nicht wünschen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe mich sehr gefreut, dass jetzt offenbar langsam der Prozess beginnt, auch darüber nachzudenken, wie wir eigentlich das finanzverfassungsrechtliche Korsett für den Staat künftig so schnüren können, dass er seine Aufgaben erfüllen kann. Das wäre einmal ein schönes Thema für den Bundestagswahlkampf, meine sehr verehrten Damen und Herren. Damit können Sie die Leute auch begeistern. Da bin ich mir sehr sicher.

(Beifall bei der SPD – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das Einzige, was Ihnen einfällt: Schulden machen!)

Um etwas aufzugreifen, was ich höre: Ich weiß, dass es um mehr geht als um Geld. Aber ohne Geld wird es mit Sicherheit nicht gehen. Das wissen Sie.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie reden von Schulden!)

Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt ansprechen,

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Bitte nicht!)

und da möchte ich einen ganz kurzen Werbeblock einstreuen. Wenn Sie – das müssen Sie jetzt aushalten – einmal schauen, wer eigentlich in den 16 Ländern regiert, stellten Sie fest: Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben sämtliche denkbaren Regierungskonstellationen beisammen. Trotzdem gelingt es regelmäßig, nach strittigen Gesprächen substanzielle Entscheidungen und Beschlüsse zu schwierigen Themen zu fassen, auch zur Migrationspolitik. Wir haben beim Thema Energiepreise erst kürzlich wieder etwas beschlossen. Aus meiner Sicht müsste das einfach nur gemacht werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt in Deutschland einen ganz beachtlichen Vorrat an Gemeinsamkeiten der Demokratinnen und Demokraten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hüten wir uns davor, diesen Vorrat zu zerreden und kleinzureden in den nächsten Wochen und Monaten. Das schadet der Demokratie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Manchmal fragt man sich: Wenn eine Einigung zwischen 16 selbstbewussten und eigenwilligen Regierungschefinnen und Regierungschefs möglich ist, die allesamt in ihren unterschiedlichen Parteifamilien fest verankert sind: Warum geht es nicht hier? Es sollte gehen. Wenn man das nächste Mal über Migration redet, sollte man vielleicht nicht einfach den Tisch verlassen, sondern sitzen bleiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, die nächsten Monate werden auch eine Bewährungsprobe für unsere Demokratie werden. Wir wissen: Eine nach wie vor große Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger steht zu dieser politischen Ordnung, steht zu unserer Demokratie, aber sie müssen jetzt darin bestärkt werden. Und das wird Aufgabe der Politik sein: über die wichtigen Themen richtig zu streiten, aber vor allen Dingen auch in einer Art und Weise, die die gegenseitige Achtung und die spätere Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])

Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Middelberg das Wort zu einer Kurzintervention.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7617981
Wahlperiode 20
Sitzung 199
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zur aktuellen Lage
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