Mahmut ÖzdemirSPD - Aktuelle Stunde: Lage der Wirtschaft in Deutschland
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Wir haben jetzt viel über thyssenkrupp gehört, und fast jeder hat das Unternehmen in seiner Rede erwähnt. Für viele der Rednerinnen und Rednern, die das Wort „thyssenkrupp“ in den Mund genommen haben, war es nur ein Beitrag zu einem Tagesordnungspunkt. Aber für uns, für die Stahlbelegschaften in Andernach, in Bochum, in Dortmund, in Finnentrop, in Gelsenkirchen, in Hagen, im Siegerland und in Duisburg bedeutet es unser Leben.
Ich war bei den Vertrauensleuten bei thyssenkrupp und da saß jemand neben mir und sagte: Weißt du wat? Ich bin von Hoesch aus Dortmund, dann bin ich nach Duisburg gekommen, und nach Duisburg kommt Arbeitsamt. – Das ist das Mindset, mit dem die Väter und Mütter nachts in Duisburg wach liegen. Die Kinder denken darüber nach, ob sie weiter zur Schule gehen können, ob sie eine Zukunft haben, ob sie studieren gehen können oder ob sie nicht auch ihren Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten müssen, wenn demnächst der Vater oder die Mutter keine Arbeit haben. Das ist echte wirtschaftspolitische Kompetenz, die Kinder und Jugendliche an den Tag legen.
Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz, liebe Union, bringt uns am Ende nur Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe wie beim ehemaligen Gesundheitsminister Spahn. Da hat man echt den Bock zum Gärtner gemacht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tilman Kuban [CDU/CSU]: Das war jetzt ein bisschen dünn am Ende!)
600 Arbeitsplätze, die durch Schließungen betroffen sind, und bis zu 11 000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie bei thyssenkrupp, von Schließungen bis zur halben Hütte, Stahl ist systemrelevant, liebe Kolleginnen und Kollegen. 75 000 Menschen sind direkt und 3,7 Millionen Menschen im ganzen Land sind mittelbar von der wichtigsten Grundstoffindustrie unseres Landes betroffen. Kohle und Stahl haben den Wohlstand dieses Landes geschaffen, die Gesellschaft geprägt, und übrigens immer im Rahmen einer starken Sozialpartnerschaft. Schauen wir uns an, wie diese Sozialpartnerschaft vom Aufsichtsrat in Essen gelebt wird. Der Aufsichtsratsvorsitzende, der scheidende BDI-Präsident Herr Russwurm – ich weiß nicht, ob er Ihnen bekannt ist –, trägt Verantwortung. Er gibt kluge Ratschläge, wie man das Land industriepolitisch nach vorne bringen kann, und nimmt dabei unsere Abhängigkeit von Stahlimporten in Kauf. Immer dann, wenn die Sozialpartnerschaft aufgekündigt und mit Füßen getreten wurde wie von Herrn Russwurm, gab es eine unbändige Profitgier, die zum Beispiel dazu geführt hat, dass man 8 Milliarden Euro irgendwo in Brasilien versenkt hat. Man hat wilde Joint-Venture-Fantasien verfolgt und musste am Ende auch noch Strafzahlungen wegen Kartellabsprachen leisten. Gleichzeitig wird keine einzige Tonne Stahl mehr für Schienen in Deutschland produziert.
Wir müssen feststellen: Stahl ist für unser Land und für unsere Wertschöpfungsketten systemrelevant. 18 Hochöfen im Land, Europas größter Stahlstandort in Duisburg, aber auch Salzgitter, die Dillinger Hütte, die Bremer Kolleginnen und Kollegen machen unser Land stark und unabhängig. Die Unabhängigkeit dieses Landes wird durch diese Grundstoffindustrie als flüssiges Eisen in Brammen gegossen. Deshalb ist es an der Zeit, dass auch der Deutsche Bundestag Haltung zeigt und Verantwortung übernimmt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass unsere Stahlindustrie in den Händen von schlechten Eigentümerinnen und Eigentümern ist. Der Kanzler hat mit seiner besonnenen und klugen Haltung kein einziges Instrument vom Tisch gewischt und gesagt, dass man das zusammen mit der Unternehmensführung, aber auch vor allem mit der Belegschaft schafft. So geht echte Sozialpartnerschaft. Das ist ein Kanzler für unser Land, der mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und mit den Arbeitgebern die wichtigste Grundstoffindustrie dieses Landes auch wertschätzt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen unseren Stahl schützen: im internationalen Wettbewerb mit einer effektiven Handelspolitik und auch mit effektivem Handelsschutz. Wir müssen ein Investitionspakt mit der öffentlichen, aber auch mit der privaten Hand, mit den Eigentümern vereinbaren. Bund und Länder sind hier klug vorangegangen.
Ich frage Sie zum Beispiel, Herr Durz: Soll der Staat 1,3 Milliarden Euro nicht in die Hand nehmen?
(Zuruf des Abg. Tilman Kuban [CDU/CSU])
Sollen wir die Transformation, die Zukunft der Arbeitsplätze für die Kinder und Enkel der Belegschaften von thyssenkrupp in Duisburg und an anderen Standorten nicht fördern? Sie verweigern diesen Menschen die Zukunft.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tilman Kuban [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch! Hören Sie auf, so einen Unsinn zu erzählen! Hören Sie auf, so einen Scheiß zu erzählen!)
Sie nehmen den Kindern und Jugendlichen in Duisburg, aber auch an den anderen Stahlstandorten die Zukunft, wenn Sie diese Gelder streichen.
Wir wollen einen echten Investitionspakt, und wir wollen auch niedrige Strompreise für die energieintensiven Unternehmen bei uns im Land, die wissen, wie es geht. Carbon2Chem, CCS, Kraft-Wärme-Kopplung, Kuppelgasverstromung:
(Tilman Kuban [CDU/CSU]: Ja! Ja! Ja!)
Das ist industriepolitische Effizienz. Das ist Innovation made in Germany.
(Tilman Kuban [CDU/CSU]: Wo ist das CCS-Gesetz?)
Ich grüße von dieser Stelle aus zum Abschluss noch ganz herzlich die Kolleginnen und Kollegen von der Mahnwache an Tor eins. Ich grüße die Kolleginnen und Kollegen, die mit der Flamme der Solidarität unterwegs im Land sind. Und ich grüße die Kolleginnen und Kollegen, die bei Sachtleben Chemie an den Toren stehen und um ihre Arbeitsplätze bangen. Sie wissen uns an ihrer Seite, wenn es um den Erhalt des Standortes und den Erhalt der Arbeitsplätze geht.
Herbert Grönemeyer wird es mir sicherlich nicht übel nehmen: Nicht nur der Herzschlag seiner Heimatstadt hat einen Puls aus Stahl, sondern das gesamte Ruhrgebiet. Diesen Puls hat dieses Land gerade heute hier in dieser Debatte gehört.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Damit das auch so bleibt, brauchen wir verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker, und Olaf Scholz ist so einer.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD)
Felix Banaszak für Bündnis 90/Die Grünen ist der nächste Redner.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7618662 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 202 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde: Lage der Wirtschaft in Deutschland |