Helge LindhSPD - Migrationspolitik
Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke ausdrücklich der CDU/CSU für diesen Antrag, weil er uns die Möglichkeit gibt, noch mal mit dieser unzweifelhaft stark ideologisch geprägten und unübersehbar wahltaktisch geprägten Auflistung von Wünschen und Forderungen, die ohne jede konkrete Substanz sind, abzurechnen, und gleichzeitig mit dem gegenwärtigen – so war das nicht immer – migrationspolitischen Elend der Union.
(Zuruf des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])
Ihre Politik krankt unter anderem daran – das ist bemerkenswert an diesem Antrag –, dass Sie „humanitäre Verantwortung“, auf die Sie sich ja berufen, genau dadurch zum Ausdruck bringen, dass Sie diese zwei Wörter im Titel des Antrags nennen. Danach findet sich nichts mehr dazu. Kein einziges Wort, keine Angaben, keine Überlegungen, wie Schutzbedürftige in diesem Land geschützt werden können. Humanitäre Verantwortung ist demnach in der Migrationspolitik der CDU abgeschafft. Wie schade!
Zweitens. Ihre Migrationspolitik krankt daran, dass es dabei nicht um Migration geht – wir haben keine sachlichen realitätsorientierten Aussagen, wie konkret das alles umgesetzt werden soll –, und vor allem an der Abwesenheit von Politik. Wo benennen Sie denn konkret die Umsetzung Ihrer Wunschkataloge, Ihrer Forderungen? Nirgends.
Das Dritte ist – und das ist, glaube ich, das Eigentliche, was wir hier erleben –: Es ist die Austreibung von Merkel, die Entmerkelung der CDU am Beispiel der Migrationspolitik, deren Zeuge wir hier werden. Deutschland ist aber kein Versuchslabor für solche therapeutischen Übungen Ihres Kanzlerkandidaten. So weit ist es gekommen. Es ist erschütternd, sich klarmachen zu müssen, dass Sie bei vielen Ihrer Anträge – bei diesem, aber auch bei Gesetzentwürfen der letzten Monate – gegenüber der AfD Urheberrechtsverletzungen begehen.
(Beifall bei der AfD – Stephan Brandner [AfD]: Das haben Sie gut erkannt!)
Tatsächlich ist es so. Schauen Sie sich mal Anträge der Union zur Zurückweisung an den Grenzen von 2018/2019 an. Ihre Wortwahl jetzt ist erschreckend ähnlich der der AfD – bis identisch. Das ist beschämend und traurig für ein Land, das einen großen Kompromiss, das große Volksparteien braucht für die Migrationspolitik.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es kann doch nicht sein, dass Sie für die Aufarbeitung dieses Merkel-Traumas das ganze Land in Haftung nehmen. Und die Pointe ist ja noch viel schlimmer: Wir haben uns hier manchmal – auch in der Großen Koalition – über Herrn Seehofer aufgeregt: sein Umgang mit Frau Merkel, seine Ausführungen zu Migration und Integration. Mittlerweile muss man sagen: Mit seinen Positionen zu Europa, die er damals vertreten hat und auch heute noch vertritt, mit seinen Stellungnahmen zur Seenotrettung steht Horst Seehofer aktuell migrationspolitisch links außen in der CDU. Das ist erschütternd und erschreckend!
Gehen wir einmal die Maßnahmen konkret durch. Sie fordern in Ihrem Antrag umfassende Zurückweisung an den Grenzen – umfassend, nicht unter bestimmten Bedingungen, auch nicht unter Berücksichtigung des geltenden Rechts,
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Natürlich unter Berücksichtigung des geltenden Rechts!)
was fordert, dass zumindest rudimentäre Verfahren erfolgen. Sie fordern umfassende Zurückweisung und gleichzeitig Drittstaatsverfahren. Das Ergebnis dieser Externalisierung soll sein – das steht im Text –, dass alle, die einen positiven Bescheid bekommen, nicht in die EU kommen, also draußen bleiben. Kurzum: Ihre Antwort auf die migrationspolitische Frage ist: Niemand kommt mehr. Wir sorgen dafür, dass niemand mehr kommt, und damit ist Migrationspolitik erledigt.
Es ist nur ein Problem damit verbunden: Diktatoren und Regime dieser Welt und Naturkatastrophen dieser Welt, also die Wirklichkeit richtet sich nicht nach den ideologischen Befindlichkeiten, Vorstellungen und Traumata der Union, sondern folgt anderen Bedingungen.
Sehen wir uns die Zahlen an. Wie viele Menschen bekommen durch das BAMF oder spätestens durch Gerichte Schutz? Was ist Ihre Schlussfolgerung? Ist also das gesamte nationale und europäische Recht zu Asyl und Flucht falsch? Variante eins. Oder sind das alles Fehlentscheidungen des BAMF? Auch darauf geben Sie keinerlei Antwort. Stattdessen reden Sie notorisch von irregulärer und illegaler Migration. Und da sind alle Schutzbedürftigen subsumiert, weil ja, wie wir alle in diesem Raum wissen, Menschen, die schutzbedürftig sind, in der Regel gar keine Alternative haben, als irregulär auf deutschen Boden zu kommen. Das wissen Sie auch.
(Stephan Brandner [AfD]: Warum nicht?)
Spielen wir es mal durch: Sie weisen also an den Grenzen zurück. Was ist denn, wenn die anderen Länder sagen: „Nee, wir nehmen die Menschen nicht zurück“? Oder wenn die weiter zurückweisen? Dann haben wir Flüchtlinge, Refugees in Orbit in ganz Europa. Wer ist zuständig? Was sind die Folgen? Was ist mit Europa? Die Europapartei Helmut Kohls mit herausragenden Leistungen hat sich von Europa verabschiedet. In der letzten Legislatur haben Sie, Horst Seehofer und seine Staatssekretäre noch Europa beschworen: Wir brauchen europäische Antworten! – Jetzt steht in diesem Antrag – auf Deutsch gesagt –: Europa nützt uns nichts, GEAS brauchen wir nicht, alles sinnlos. – Sie gehen zurück zu einer letztlich nationalisierenden Migrationspolitik. Das kann und wird niemals funktionieren. Es wird Migration geben.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ihre Politik funktioniert doch ganz offensichtlich nicht!)
Es wird Flucht geben. Europa kann nicht die Antwort geben: Wir ziehen alle Binnengrenzen hoch, wir schaffen das Schengen-System ab, und wir bauen Mauern an den Grenzen Europas. In diesem Europa möchten wir jedenfalls nicht leben, und werden wir nicht leben. Dies kann niemals die Antwort sein!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Und dann noch etwas: Ihre hochkreative Antwort auf die Frage nach Abschiebungsgesetzen und Abschiebungsregelungen lautet: noch weitere Gesetze. Aber erinnern Sie sich doch mal an diverse Sitzungen im Innenausschuss. Es krankt doch nicht daran, dass wir wirklich bis zur Grenze die Gesetzgebung verschärft haben. Wir haben ein Umsetzungsdefizit, übrigens auch ganz massiv in CDU-regierten Ländern. Das heißt, Sie können noch so viele Gesetze machen, das wird an der Realität und an der Praxis von Abschiebungen null Komma null ändern. Und wenn Sie behaupten, es läge an Gesetzen, lügen Sie.
Dann kommen wir zum absoluten Meisterstück, den integrationspolitischen Passagen in diesem Antrag. Ihre Antwort sind Integrationsvereinbarungen und Bekenntnisse. Was meinen Sie, was die Ausländerbehörden zu dieser gesinnungsethischen Placebo-Integrationspolitik sagen? Gar nichts werden die dazu sagen. Die haben nämlich keine Lust, Leute einzubestellen und Bekenntnisfragen zu stellen oder Integrationskataloge abzufragen. Mit Realität, mit Wirtschaftspolitik, Bildungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Kooperation mit Unternehmen, die wir für die Integration brauchen, hat das nichts zu tun. Ihre einzige konkrete Antwort ist: Gutes Angebot von Deutsch- und Integrationskursen. – Hurra, was für eine Erkenntnis!
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sie wollen sie ja kürzen!)
Und am Ende schlagen Sie gerade auch der Gastarbeitergeneration, die dieses Land mit aufgebaut hat, ins Gesicht, indem Sie sagen, dass Sie das dringend notwendige, durch Schröder damals eingeleitete, durch die jetzige Regierung bzw. die Ampel umgesetzte Staatsangehörigkeitsrecht wieder aufheben wollen. Was meinen Sie, wie das Menschen wahrnehmen, die hier gearbeitet haben und es verdienen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu haben?
(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Denen wollen wir sie ja geben!)
Was ist das für ein Signal an Menschen, die sich identifizieren sollen?
Herr Lindh?
Und Sie schreiben auch noch, man würde Leute damit belohnen, anstatt Leistung zu honorieren.
Herr Lindh!
Das Gegenteil ist der Fall: Nach drei Jahren wird eingebürgert, wer die Sprache hervorragend beherrscht und wer große Integrationsleistungen erbringt. Wenn man Desinformation betreibt – –
Präsidium an Helge Lindh: Die Redezeit war längst vorbei.
(Stephan Brandner [AfD]: Wieso „längst“?)
Okay. – Keine Desinformation, praktische Politik!
Frohe Weihnachten!
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Herr Lindh, vielen Dank.
(Helge Lindh [SPD]: Ach so! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
– Ich war nicht sicher, ob noch ein weiterer Nachsatz vom Nachsatz vom Nachsatz kommt.
Für die CDU/CSU hat Alexander Throm das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7619953 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 208 |
Tagesordnungspunkt | Migrationspolitik |