Beate Müller-GemmekeDIE GRÜNEN - Arbeitszeitflexibilisierungsgesetz
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!
(Stephan Brandner [AfD]: „Deutsche demokratische Altfraktionen“ heißt das!)
Hier ist sie wieder, die FDP, so wie wir sie aus der Zeit vor der Ampel kennen, mit einem Gesetzentwurf, den wir auch schon kennen, aus dem Jahr 2018.
(Johannes Vogel [FDP]: Ja, das ist das Problem! Wir verlieren Zeit!)
Es geht wieder um das Arbeitszeitgesetz; es soll moderner, es soll flexibler werden. Doch in Wirklichkeit entstehen mehr Belastung, mehr Stress und weniger Schutz für die Beschäftigten.
Und Herr Reichel, die Idee, dass längere Arbeitszeiten wirtschaftliche Probleme lösen könnten, ist nicht nur kurzsichtig, sondern ignoriert vor allem die Wünsche der Beschäftigten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Nee! Es geht genau um die Wünsche der Beschäftigten! Dirigieren Sie doch nicht die Leute! Wir wollen mehr Freiraum!)
Die FDP und übrigens auch die Union, beide wollen die tägliche Höchstarbeitszeit durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ersetzen. Und konkret heißt das, Beschäftigte sollen künftig eben länger als zehn Stunden arbeiten dürfen, und auch die Ruhezeiten sollen verkürzt werden können.
(Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Wer hat das gesagt?)
Gleichzeitig behauptet die FDP felsenfest, dass niemand deswegen länger arbeiten muss. Aber genau darum geht es doch. Warum müsstet ihr denn sonst das Arbeitszeitgesetz verändern?
(Otto Fricke [FDP]: Nein! – Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Sie wollen es halt nicht verstehen!)
Der Arbeitstag soll flexibler und damit auch länger werden, mal 10 Stunden, mal 12 Stunden, mal 13 Stunden, vielleicht mal nur 6 Stunden, je nachdem, wie es dem Unternehmen gerade passt.
(Otto Fricke [FDP]: Wer dann arbeitet, wenn er kann, ist auch produktiver in gleicher Zeit! Das ist ganz einfach! – Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Mit dieser Denke haben Sie den Wirtschaftsstandort kaputtgemacht!)
Modern klingt das nicht, sozial ist es auch nicht, und Freiheit entsteht dadurch schon gar nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Da meinen Sie Ihre Rede, oder?)
Und dann kommt das Argument: Es geht ja nur mit dem Tarifvertrag. Lieber Johannes Vogel, genau darüber haben wir bei den Koalitionsverhandlungen diskutiert. Mit so einer gesetzlichen Änderung geraten die Gewerkschaften in ein Dilemma; denn natürlich fordern die Arbeitgeber längere Arbeitszeiten als Gegenleistung für bessere und höhere Löhne. Das schwächt die Verhandlungssituation der Gewerkschaften, und das kann wahrlich nicht Sinn von Tarifverträgen sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
FDP und Union ignorieren auch wissenschaftliche Studien: Längere Arbeitszeiten und verkürzte Ruhezeiten machen krank. Ab der achten Arbeitsstunde steigt das Unfallrisiko,
(Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Wir reden nicht von längeren Arbeitszeiten! Wir reden von der Lage der Arbeitszeit!)
und ab der sechsten Stunde, Herr Oellers, sinkt die Konzentration und damit auch die Produktivität. Politik darf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach beiseiteschieben,
(Ulrike Schielke-Ziesing [AfD]: Hört! Hört!)
und vor allem ist der Gesundheitsschutz nicht verhandelbar, auch nicht mit einem Tarifvertrag.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Genau das Richtige für die kleinen und mittleren Unternehmen! Denken Sie an den Mittelstand!)
Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt auch klar: Unterbrochene Arbeitszeiten – also an Tagen, an denen mal gearbeitet wird, mal Kinder betreut werden und dann abends der Laptop noch mal aufgeklappt wird – belasten die Beschäftigten. Der ständige Wechsel zwischen Tätigkeiten – Arbeiten, Spielen, Kochen, Hausaufgaben, Arbeiten – erhöht den Stress und führt unweigerlich zu mehr Krankheitstagen. Bei der Arbeitszeit geht es also zum einen um die Leistungsfähigkeit, aber vor allem um die Gesundheit der Menschen. Gute Arbeit braucht deshalb Schutz, klare Regeln und vor allem Zeit zum Leben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Forderungen der FDP schaffen auch keine Freiräume für Familie und Beruf. Im Gegenteil: Wer plötzlich zwölf Stunden am Tag arbeiten soll, hat weder Zeit für Kinderbetreuung noch für Hausarbeit.
(Otto Fricke [FDP]: Und das entscheidet ihr? – Pascal Kober [FDP]: Lassen Sie doch die Leute selbst entscheiden! – Gegenruf der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]: Es gibt in den Unternehmen solche Entscheidungen! Ich weiß nicht, wo Sie leben!)
Und mit unberechenbaren und wechselnden Arbeitszeiten wird es noch schwieriger, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. Wer, bitte schön, arbeitet in dieser Situation länger? Natürlich die Männer. Und damit verstärken die Pläne der FDP genau die Ungleichheiten, die wir doch endlich überwinden wollen. Eine Politik, die alte Rollenmuster zementiert, brauchen wir definitiv nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Was wir wirklich brauchen, ist Zeitsouveränität; das bedeutet, Arbeitszeitmodelle und eine Arbeitszeitkultur, die sich an den Wünschen der Beschäftigten orientieren, beispielsweise eine Familienarbeitszeit, bei der beide Elternteile 32 Stunden arbeiten, oder eben die Viertagewoche, die mehr Zeit für Familie, Ehrenamt und Erholung schafft.
(Otto Fricke [FDP]: Oder die Dreitagewoche! Oder die Zweitagewoche! – Wilfried Oellers [CDU/CSU]: So viel zur Leistungsbereitschaft!)
Bei der Zeitsouveränität geht es auch um die Lage der Arbeitszeit, also beispielsweise darum, dass Beschäftigte regelmäßig einen freien Nachmittag brauchen, weil sie sich um ihre alten Eltern kümmern wollen.
(Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Sie machen reine Schönwetterpolitik!)
Dazu gehört natürlich auch das Recht auf Homeoffice und mobiles Arbeiten mit klaren Regeln und fairen Absprachen. Zeitsouveränität ist wichtig; denn Arbeitszeit ist auch Lebenszeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die FDP will die Gesellschaft flexibilisieren, damit sie in die digitale Arbeitswelt passt. Wir aber wollen eine Arbeitswelt, die sich an den Menschen orientiert. Das ist dann auch eine Antwort auf den Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel; denn wenn Arbeit besser ins Leben passt, dann werden mehr Frauen arbeiten, und die Frauen, die heute schon arbeiten, können dann auch mehr arbeiten. Ich denke, Sie alle kennen die Zahlen: Wenn heute alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so arbeiten könnten, wie sie wollen, dann würden rund 840 000 Frauen wieder in den Beruf einsteigen.
(Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Deswegen: flexiblere Arbeitszeiten! Danke für das Argument! – Gegenruf der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD]: Stichwort „Kinderbetreuung“! Aber da waren Sie wahrscheinlich noch nie für verantwortlich! – Gegenruf des Abg. Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Das ist aber jetzt eine nette Bemerkung!)
Wenn Arbeit also ins Leben passt – für alle: für Frauen, für Männer –, dann steigert das die Produktivität, reduziert das die Krankentage, verbessert das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und erhöht das die Lebensqualität. Und davon profitieren dann alle: die Menschen, die Unternehmen und auch unsere Gesellschaft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Und jetzt kurz in eigener Sache. Das war meine letzte Rede im Hohen Haus. Als Grüne ging es mir immer darum, dass Politik ökologisch und sozial ist. Klimaschutz muss immer mit einer Politik für mehr soziale Gerechtigkeit verbunden werden, und es muss fair und gerecht in unserer Gesellschaft zugehen.
Die Stichworte sind hier alle bekannt: gute Arbeit, Tarifbindung, Mitbestimmung, soziale Absicherung, ein soziokulturelles Existenzminimum, Chancen, Perspektiven. Und vor allem müssen all diese Debatten mit Wertschätzung geführt werden, weil es um Menschen geht. Deshalb kritisiere ich momentan die harsche Kampagne gegen das Bürgergeld. – Das sind grob gefasst meine Ziele, meine politischen Anliegen.
Nach vier Legislaturperioden ist jetzt gut. Ich gehe zurück an die Basis. Ich bedanke mich für die vielen tollen und interessanten Begegnungen mit den Abgeordneten der demokratischen Fraktionen.
(Stephan Brandner [AfD]: „Deutsche demokratische Altfraktionen“ heißt das!)
Ich bedanke mich für die guten inhaltlichen und auch streitbaren Diskussionen. Ich wünsche alles Gute. Bleiben Sie nah an den Menschen! Und vor allem: Verteidigen Sie unsere Demokratie!
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der Linken – Die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie Abgeordnete der SPD, der CDU und der FDP erheben sich)
Liebe Beate Müller-Gemmeke, in Ihr Leben passt jetzt ein bisschen mehr Nicht-Bundestag. Das wird ein neuer Abschnitt sein. Sie sind ja Diplom-Sozialpädagogin. Das hat bestimmt immer geholfen bei der Arbeit hier und wird auch weiter helfen.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ihre kämpferische Art für die Sache der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus gewerkschaftlicher Perspektive haben wir heute hier noch mal erleben können. Sie sind immer offen gewesen, auch für Neues, für neues Nachdenken und neue Überlegungen, und hier im Haus von allen anerkannt in Ihrer Expertise und Kompetenz, auch über inhaltliche Unterschiede hinweg.
(Stephan Brandner [AfD]: Nicht von allen!)
Ich will an dieser Stelle auch noch sagen: Es ist ja oft so, dass Kolleginnen und Kollegen hier im Haus ein Herzensthema haben, das über ihre eigentliche Zuständigkeit völlig hinausgeht. Bei Ihnen ist das die humanitäre Hilfe für Menschen in der Ukraine. Auch dafür, dass Sie das miteinander verbunden haben – die Arbeit hier und das zivilgesellschaftliche Engagement –, ganz herzlichen Dank! Das ist ein Dienst für die Demokratie in unserem Land, und davor verbeugen wir uns. – Vielen Dank, Frau Müller-Gemmeke.
(Beifall)
Jetzt hat Ulrike Schielke-Ziesing das Wort für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD – Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt Glückwünsche entgegen – Abg. Ulrike Schielke-Ziesing wartet am Rednerpult – Stephan Brandner [AfD]: Das kann man auch draußen machen, glaube ich! Wir sollten hier weitermachen jetzt! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie nicht einmal Ihren Mund halten, Herr Brandner? – Gegenruf des Abg. Stephan Brandner [AfD]: Nein, das kann ich nicht! Nicht bei so einem Zirkus! Das ist ein Parlament und keine Knutschkugel! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie sind echt unglaublich! Anstand kennen Sie überhaupt nicht! – Weiterer Gegenruf des Abg. Marc Biadacz [CDU/CSU]: Also, Herr Brandner, ein bisschen Respekt!)
– Herr Brandner, es ist ja auch die Frage, wie wir menschlich hier miteinander umgehen. Ihre Kollegin hat gerade entschieden, dass sie den Moment noch wartet, und das finde ich auch gut und anständig.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an Ihrer Kollegin, Herr Brandner!)
Und jetzt gebe ich Frau Schielke-Ziesing das Wort für ihre Rede.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7619971 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 208 |
Tagesordnungspunkt | Arbeitszeitflexibilisierungsgesetz |