Ralf StegnerSPD - Abschluss der Beweisaufnahme im 1. UA (Afghanistan)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ist heute aufgerufen, die Ergebnisse des 1. Untersuchungsausschusses der 20. Wahlperiode zu würdigen, ein Ausschuss, der, wie es im Einsetzungsantrag heißt, „seinen Beitrag zu einer gründlichen Aufklärung der Umstände, der Genese und des Ablaufs der militärischen Evakuierungsoperation und des Umgangs mit den afghanischen Ortskräften deutscher Stellen“ leisten sollte. Dass wir diesen Auftrag trotz der durch die vorgezogenen Neuwahlen extrem verkürzten Zeit erfüllen konnten, ist ein Beleg für die Leistungsfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Bereits im Februar werden wir der Bundestagsvizepräsidentin unseren umfassenden Bericht übergeben können. In 46 Beweisaufnahmesitzungen mit insgesamt 483 Stunden haben wir 111 Zeuginnen und Zeugen vernommen, sieben davon zweimal. Hinzu kamen zwölf Sachverständige und vier internationale Experten. Über 1,4 Millionen Seiten Akten wurden ausgewertet, davon ein Großteil in öffentlicher Sitzung. Diese beeindruckenden Zahlen verdeutlichen nicht nur den Umfang der Untersuchung; sie zeigen auch die Bedeutung der mit umfangreichen Rechten und Ressourcen ausgestatteten parlamentarischen Kontrolle in dieser lebendigen Demokratie.
Diese intensive Arbeit wäre ohne das außergewöhnliche Engagement aller Beteiligten nicht möglich gewesen. Es fällt heute ein bisschen schwer, das zu sagen, weil ich nicht weiß, ob das nach dem, was wir gestern erlebt haben, in Zukunft auch so sein wird, aber ich will den Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen für die sachliche und zielorientierte Mitarbeit danken. Das war eine Voraussetzung dafür, dass das gelungen ist.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Die konstruktive Zusammenarbeit bei der Zeugen- und Themenplanung zeigt, dass parlamentarische Kontrolle auch unter Zeitdruck funktioniert, wenn alle Beteiligten das gemeinsame Ziel der Aufklärung verfolgen. Besondere Anerkennung verdient das Ausschusssekretariat für die hervorragende organisatorische und fachliche Begleitung.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Mitarbeiter der Verwaltung, der Fraktionen und der Abgeordnetenbüros haben mit unermüdlichem Einsatz Akten gesichtet, Befragungen vorbereitet, Erkenntnisse ausgewertet, oft bis tief in die Nacht. Ohne diese Hingabe hätten wir den engen Zeitplan nicht einhalten können. Ich bedanke mich herzlich bei allen Beteiligten.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die internationale Bedeutung unserer Aufklärungsarbeit wird dadurch deutlich, dass sich selbst die US-Regierung, was keineswegs selbstverständlich ist, aktiv an unserer parlamentarischen Untersuchung beteiligt hat. Mit John F. Sopko, dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, und anderen hochrangigen US-Experten haben wichtige Zeitzeugen und Analysten ihre Erkenntnisse mit uns geteilt. Das zeigt: Die Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes ist eine gemeinsame Aufgabe des westlichen Bündnisses.
62 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, Frau Wehrbeauftragte, haben in Afghanistan ihr Leben verloren. Vielen anderen hat dieser Einsatz tiefe physische und psychische Wunden zugefügt. Ihnen allen, den Gefallenen, ihren Familien und allen, die dort gedient haben – ich beziehe das auch auf die Polizisten und andere, die ums Leben gekommen sind –, waren und sind wir eine ehrliche und gründliche Aufarbeitung schuldig und den Dank dafür, dass sie sich eingesetzt haben für unser Land.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Unsere Untersuchung hat mehre gravierende Defizite offengelegt: Die nachrichtendienstliche Informationslage war unzureichend. Noch zwei Tage vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban hielt der BND dieses Szenario für unwahrscheinlich – eine Fehleinschätzung mit dramatischen Konsequenzen. Die mangelnde Abstimmung zwischen den Ministerien und die zu wenig koordinierende Steuerung durch das Bundeskanzleramt haben zu einer teilweise inkohärenten Afghanistan-Politik geführt. Statt gemeinsamen Handelns dominierten Ressortdenken und bürokratische Hürden. Dies zeigte sich besonders beim Schutz unserer afghanischen Ortskräfte. Während andere Nationen bereits im Mai 2021 mit der Evakuierung ihrer Ortskräfte begonnen haben, fehlten in Deutschland die entsprechenden Planungen für ein Worst-Case-Szenario. Die zu späte Einbindung des Parlaments hat die Situation zusätzlich erschwert.
Als Vorsitzender dieses Ausschusses sage ich mit aller Deutlichkeit: Die Würde des Menschen muss auch in Krisenzeiten Vorrang vor bürokratischen Erwägungen haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deutschland darf nie wieder zulassen, dass Formalismen über Menschenleben entscheiden. Andere Nationen haben gezeigt, dass Hilfe auch unbürokratisch und schnell möglich ist. Die militärische Evakuierungsoperation selbst war dabei unter schwierigsten Bedingungen ein Erfolg. In nur elf Tagen wurden über 5 300 Menschen aus 45 Nationen in Sicherheit gebracht. Das zeigt, zu welchen Leistungen unsere Soldaten fähig sind, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Die Lehren aus Afghanistan müssen in die Planung künftiger Einsätze einfließen. Wir brauchen eine realistische Einschätzung der Ziele. Die Abstimmung zu den Ressorts muss deutlich verbessert werden. Ein ressortübergreifendes Lagezentrum ist unverzichtbar. Klare Verantwortlichkeiten und Entscheidungswege müssen definiert werden. Und vor allem – das sage ich mit Blick auf die deutsche Geschichte und mit Blick auf manches, was wir vielleicht hätten anders haben können –: Humanität muss immer Vorrang vor Bürokratie haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Deutschland trägt als eines der wichtigsten Länder Europas besondere Verantwortung für diejenigen, die uns vor Ort unterstützen. Sie kennen die Worte von Margot Käßmann: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Das stimmt, glaube ich, nicht ganz. Wir haben wichtige Entwicklungszusammenarbeit geleistet. Wir haben uns von Korruption ferngehalten. Wir haben, glaube ich, vieles erreicht, was die Gleichstellung von Mädchen und Frauen angeht bei Bildungschancen, Infrastrukturhilfen; das war nicht umsonst. Aber wir müssen uns fragen: Kann man ein Land, das mehrfach erobert und über Jahrzehnte verwüstet wurde, umkrempeln in der Art und Weise, wie wir das machen? Müssten wir nicht häufiger über die Ziele nachdenken? Und wäre es nicht gut, wenn wir über solche Länder mehr wüssten und nicht glaubten, es sei dort überall wie in Kabul? An all dem hat es ein bisschen gemangelt.
Ich glaube übrigens, dass es eine weise Entscheidung dieses Parlaments war, nicht nur einen Untersuchungsausschuss, sondern auch eine Enquete-Kommission einzusetzen. Mit dem Kollegen Müller und allen Beteiligten haben wir gut zusammengearbeitet. Was wir da gemacht haben, ergänzt sich.
Parlamentarische Kontrolle ist sehr wichtig. Sie dient ja nicht nur dazu, Fehler herauszufinden und womöglich Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Gerade in diesem Fall, wo wir vergleichsweise viel überparteiliche Übereinstimmung hatten, kann man sagen: Sie dient auch dazu, dass in der Zukunft vermieden werden kann, dass wir Dinge tun, die wir nicht tun sollten, dass wir Menschen in Gefahr bringen, wo wir das vermeiden können, und vielleicht auch dazu, dass wir lernen, dass das ein oder andere vielleicht auch auf anderen Wegen möglich ist.
Ich finde, all diejenigen, die sich dort für Deutschland eingesetzt haben – und damit meine ich auch die Ortskräfte, die uns über viele Jahre zugearbeitet haben –, haben es verdient, dass sie sich auf das deutsche Wort verlassen können, haben es verdient, dass wir das Land auch jetzt nicht aus den Augen verlieren. Die Verhältnisse, die wir dort vorfinden, sind katastrophal. Aber das ist ja in vielen Teilen der Welt so.
Insofern: Wenn die Arbeit dieses Untersuchungsausschusses dazu beigetragen haben könnte, dass Deutschland in der Zukunft noch mehr daran mitwirken kann, Probleme in der Welt geringer zu machen – nicht dazu beizutragen, sie zu vergrößern –, und unseren guten Ruf, den wir in der Entwicklungszusammenarbeit haben, zu stärken und Verständnis für die Soldatinnen und Soldaten, für die Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, für die Polizistinnen und Polizisten und andere, die dort für uns tätig werden, zu haben, dann hätten wir etwas dabei gewonnen.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei all denen, die dazu beigetragen haben und wesentlich dafür gesorgt haben, dass wir das, was der Deutsche Bundestag uns aufgetragen hat, Frau Präsidentin, erfüllen konnten.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Für die Unionsfraktion hat das Wort Thomas Röwekamp.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sara Nanni [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Ann-Veruschka Jurisch [FDP])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7628879 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 210 |
Tagesordnungspunkt | Abschluss der Beweisaufnahme im 1. UA (Afghanistan) |