Jörg NürnbergerSPD - Abschluss der Beweisaufnahme im 1. UA (Afghanistan)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Keuter, Sie sind ein Meister – ein Meister, in sieben Minuten so viel Unsinn zu erzählen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
der nicht der Wirklichkeit entspricht und der sich am Ende nur für ein 30-Sekunden-Video bei TikTok eignet, damit Sie Ihre eigene Blase und Ihr Klientel überzeugen können, wie gut Sie angeblich sind.
(Zuruf von der AfD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zweieinhalb Jahre intensiver Arbeit liegen hinter uns, zweieinhalb Jahre, in denen wir uns mit menschlichem Leid – eine Kategorie, die die AfD überhaupt nicht kennt –, mit Tragödien und mit den ganz konkreten Auswirkungen unserer Politik auf das reale Leben und die Schicksale der Menschen auseinandergesetzt haben.
Wir haben gleichzeitig bürokratische Verfahren und Kompetenzgerangel analysiert und Zeugen erlebt, die in ihren alltäglichen Routinen gefangen waren und nicht in der Lage waren, außergewöhnliche und herausfordernde Situationen zu bewältigen. Aber wir haben auch jene gesehen, die genau in solchen Momenten über sich hinausgewachsen sind, Verantwortung übernommen und Großes geleistet haben – oft jenseits von Dienstvorschriften oder Anweisungen. Genau diese Vielfalt der verschiedenen Eindrücke wird uns für immer im Gedächtnis bleiben.
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit im Untersuchungsausschuss liegt nun hinter uns. Wir sind dabei, den Bericht fertigzustellen, und das trotz der anstehenden Neuwahlen in 24 Tagen und obwohl wir deshalb ein halbes Jahr weniger Zeit haben werden. Wir werden unseren Auftrag abschließen, und wir werden im Februar melden können: Mission accomplished! Aber der Abschluss der Beweisaufnahme und die Veröffentlichung des Berichts dürfen kein Schlusspunkt sein. Sie müssen vielmehr ein Ausgangspunkt sein – ein Ausgangspunkt für Veränderung, für Einsicht und für eine ehrliche Bestandsaufnahme dessen, was in Zukunft besser gemacht werden muss.
Die letzten zweieinhalb Jahre haben eindrucksvoll gezeigt, wie eine konstruktive und gute Zusammenarbeit mit den demokratischen Fraktionen aussehen kann. Danke den Kolleginnen und Kollegen hierfür! Und auch Frau Kollegin Bünger von den Linken sei erwähnt, die am Anfang des Untersuchungszeitraums bei uns im Ausschuss mitgearbeitet hat.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Linken sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Am Ende bleibt die zentrale Frage: Warum musste es so weit kommen? Warum war es am Ende notwendig, so kurzfristig eine militärische Evakuierungsmission durchzuführen? Nach dem Abschluss der Vernehmung der politisch Verantwortlichen ziehen wir für die SPD-Fraktion eine klare Schlussfolgerung. Die Bundesregierung hätte damals früher auf die eskalierende Lage in Afghanistan reagieren müssen.
Bereits lange vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung – auch das ist schon erwähnt worden – war der damaligen Bundesregierung bekannt, dass die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte ohne internationale Unterstützung, ohne Unterstützung der USA nicht wirklich durchhaltefähig waren. Umso unverständlicher ist es, dass bis zum Fall Kabuls am 15. August 2021 kein belastbarer Plan für ein Worst-Case-Szenario vorlag.
Unterschiedliche Ressortinteressen und eine unzureichende Koordinierung durch das Bundeskanzleramt führten letztendlich dazu, dass auch das Ortskräfteverfahren trotz der eskalierenden Lage nicht zügiger vereinfacht wurde. Auch das ist angeführt worden: In der Abwägung zwischen Humanität und Bürokratie entschied sich auch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat zu lange für Letzteres, was wertvolle Zeit kostete.
Ein großes Manko war, dass die unterschiedlichen Lagebilder der verschiedenen Ministerien, Behörden und Institutionen nicht zusammengeführt und kritisch abgeglichen wurden; da stimme ich mit der Kollegin Jurisch überein. Hier ist aber auch ganz besonders die Fehleinschätzung – da ist unsere Meinung abweichend – des BND hervorzuheben. Noch am 13. August 2021, zwei – zwei! – Tage bevor die Taliban Kabul eingenommen haben, hielt der BND ein solches Szenario vor dem 11. September 2021 für eher unwahrscheinlich. Diese Fehleinschätzung oder Fehlbewertung, wenn Sie so wollen, hatte maßgeblichen Einfluss auf die verzögerte Krisenreaktion der Bundesregierung. Das ist uns heute im Nachhinein sehr klar.
Aber ich möchte nicht nur das Negative hervorheben. Wir haben auch gesehen, dass sich seitdem viel verändert hat. In den Ministerien, auch beim BND fanden umfangreiche Evaluierungen statt, und es wurden bereits die ersten Konsequenzen gezogen. Weiter so! Fehler einzusehen und sie zu beheben, ist ehrenwert, sie abzustreiten oder zu verharmlosen, ist es eher nicht. Auch das Auswärtige Amt und die Bundeswehr haben bei der Evakuierungsmission im Sudan im vergangenen Jahr gezeigt, dass sie eben die richtigen Lehren aus den Fehlern von 2021 gezogen haben.
Meine Damen und Herren, am Ende dürfen wir nicht vergessen, wen wir mit den Ergebnissen unseres Ausschusses in erster Linie adressieren: die beteiligten Personen in unserem Parlament und in den Ministerien – ja selbstverständlich, klar –, aber eben auch die vielen Menschen, die sich vor Ort eingesetzt haben, die Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, die afghanischen Ortskräfte, unsere Soldatinnen und Soldaten, unsere Polizisten und Polizistinnen. Ohne deren unermüdlichen Einsatz wäre das zivile und militärische Engagement in Deutschland nicht möglich gewesen.
Der Kollege Röwekamp hat es sehr eindrücklich geschildert. Auch mich haben besonders beeindruckt die Erzählungen der vielen, zum Teil sehr jungen Soldatinnen und Soldaten, Menschen, halb so alt wie ich, um die 30, die uns ihre Erlebnisse in dieser Situation vor Augen geführt haben. Sie berichteten uns – das ist auch nicht unbedingt selbstverständlich – mit voller Offenheit und vertrauensvoll, wie sie aus dem Sommerurlaub herausgerissen wurden, irgendwo in ein Flugzeug einsteigen, sich innerhalb kürzester Zeit mit ihnen persönlich überhaupt nicht bekannten anderen Soldatinnen und Soldaten zu einer funktionierenden Einheit formieren mussten – einer Einheit, die unter extrem schwierigen Bedingungen in einer feindseligen Umgebung buchstäblich Auge in Auge mit den Taliban hinter dem Flughafenzaun Herausragendes geleistet hat. Sie haben es gut geschildert, Herr Röwekamp.
Die elftägige Evakuierungsmission in Kabul war die gefährlichste und anspruchsvollste Operation in der Geschichte der Bundeswehr. Die 496 am Einsatz beteiligten Soldatinnen und Soldaten handelten dort nicht nur mit taktischem Geschick, sondern mit unerschütterlichem Mut. Und glücklicherweise gab es keine Verwundeten oder gar Toten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Sie haben unter ständigem Bedrohungsszenario insgesamt 5 347 Personen aus 45 Nationen über Taschkent aus Kabul in Sicherheit gebracht.
Aber unser Gedenken gilt auch jenen, die nicht zurückgekehrt sind aus Afghanistan: den 62 Soldatinnen und Soldaten, die während des 20-jährigen Einsatzes ihr Leben verloren haben. Ihr Opfer mahnt uns, das ganze Haus, mit Demut und Respekt auf diesen Einsatz zurückzublicken und vor allen Dingen auch bei jeder neuen Mandatserteilung zu beachten, dass wir hier im Parlament, alle von uns, auch über das Schicksal von Soldatinnen und Soldaten entscheiden werden und sie der Gefahr, zumindest der potenziellen Gefahr von Tod und Verwundung an Leib und Seele aussetzen. Ich möchte deshalb als Obmann der SPD-Fraktion im Afghanistan-Untersuchungsausschuss den Soldatinnen und Soldaten noch einmal ganz herzlich danken. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet! Wir werden Ihren Einsatz nicht vergessen!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Nächster Redner ist Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 210 |
Tagesordnungspunkt | Abschluss der Beweisaufnahme im 1. UA (Afghanistan) |