Kevin KühnertSPD - Vereinbarte Debatte zur Situation in Deutschland
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke meiner Fraktion, dass sie mir die Möglichkeit gibt, heute noch einmal zu sprechen. Die Zeit ist knapp bemessen; deswegen muss ich mich beeilen. Ich bitte um Verständnis; denn mir liegt jedes einzelne Wort sehr am Herzen.
Ich stehe nicht im aktuellen Wahlkampf, und deswegen rede ich hier zu etwas, was mir seit 20 Jahren als deutscher Sozialdemokrat das Grundsätzlichste ist: die Verantwortung vor unserer Geschichte. Das ist insbesondere seit zwei Wochen, seit dem, was in der letzten Sitzungswoche hier passiert ist, ein großes Thema in unserer Republik, besprochen von unterschiedlichen Seiten. Ich will zuerst sagen, an welcher Stelle ich unglücklich mit dieser Diskussion bin. Nein, Union und FDP sind keine Faschisten, auch nicht klammheimlich. Man stürmt keine Geschäftsstellen, man zerstört keine Plakate, man droht anderen Menschen nicht.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der Linken sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Der richtige Konflikt darf nicht mit den falschen Argumenten ausgetragen werden. Aber ausgetragen werden muss er sehr wohl. Deswegen lohnt es sich, auf eine andere Stelle der Debatte und die Stilverschiebung zu schauen, die mir aufstößt und die mir große Sorgen macht. Über die möchte ich heute sprechen.
Ich möchte über das sprechen, was Michel Friedman Ihnen und uns allen ins Stammbuch geschrieben hat. Das wohl prominenteste Gesicht der jüdischen Community in Deutschland attestiert Ihrer Partei, der CDU, eine – Zitat – „katastrophale Zäsur“, ein „unentschuldbares Machtspiel“ und schlussfolgert, dass er hier, wenn der AfD zu immer mehr Macht verholfen wird, nicht mehr leben könne. Ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens sagt das und tritt aus der CDU aus. Es gab Zeiten, da wäre anschließend in der CDU kein Stein auf dem anderen geblieben. Heute wird der Störenfried angestrengt ignoriert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Merz wurde am Sonntag im TV-Duell von Frau Illner auf all das angesprochen, und es passierte etwas, was viel über die CDU unter Ihnen, über Ihren Wertekanon und vielleicht auch über den politischen Anstand verrät. Der Vorsitznachfolger von Adenauer und Kohl ignorierte die Frage, ob Friedmans Austritt ihn nicht schmerze. Er wendete sie stattdessen zum Vorwurf: Ihn schmerze – Zitat –, „dass wir … Demonstrationen haben, die über dieses Thema „Kampf gegen rechts“ geführt werden, aber kaum jemand in unserem Land noch an die Opfer denkt, an die Familien denkt und dafür … mal auf die Straße geht“. Zitat Ende. Als ginge nicht beides gleichzeitig,
(Beatrix von Storch [AfD]: Das eine passiert halt nicht!)
als wäre nicht beides richtig, als würde Michel Friedman nicht für beides einstehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Illner insistierte. Sie fragte noch mal nach Friedmans CDU-Austritt. Doch Merz ignorierte den Kritiker einfach und erklärte, es habe in derselben Zeit Hunderte von neuen Eintritten in die CDU gegeben, die Umfragewerte würden steigen. Es ist wichtig, zu verstehen, welches Muster hier erkennbar wird: Die Opportunität sticht die Integrität.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Linken)
Aus dem Ausland ist mir dieses Muster vertraut, aus Deutschland bislang weniger.
Die staatstragenden Parteien hatten in unserem Land und in Verantwortung vor unserer Geschichte immer eine doppelte Aufgabe, die sie charakterisierte und unterschied: Ja, sie sollen und müssen das Ohr am Volk haben und dürfen auch dann nicht weghören, wenn das Volk anders denkt und spricht, als das in den Versammlungen der Parteien geschieht; das sage ich auch meiner eigenen Partei. Gleichzeitig hatten sie immer die Aufgabe, gemeinsam einen bundesrepublikanischen Grundkonsens zu verteidigen – aus gemeinsamer Überzeugung –, manchmal auch gegen die Mehrheitsmeinung argumentierend. Ich denke an unsere besondere Verantwortung für jüdisches Leben und den Staat Israel, die Westbindung, die Wiederbewaffnung und vieles andere mehr. Es sind Eckpfeiler Deutschlands. Doch für keine dieser Überzeugungen bekamen die Spitzen von Staat und Regierung unmittelbar breite Zustimmung. Es war ein Akt innerer Überzeugung. Adenauer, Brandt, Schmidt, Weizsäcker und Kohl haben sich für einige für sie unumstößliche Überzeugungen als „Büttel der Alliierten“, „rote Brüder“ oder anderweitig beschimpfen lassen. Dabei hatten sie das Ohr am Volk. Aber weil sie das Volk ernst nahmen, redeten sie ihm nicht nach dem Mund, sondern muteten ihm etwas zu. Sie rangen für ihre Überzeugung, und die Geschichte gab ihnen recht.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie müssen zum Schluss kommen.
Vielen Dank für die Toleranz. – Viele von Ihnen haben vermutlich weiterhin die innere Überzeugung, Rechtsradikale solle man rechts liegen lassen. Das glaube ich Ihnen. Aber Sie geben das Ringen zunehmend auf, und das kritisiere ich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kühnert!
Jeder Bundeskanzler muss wissen, was im Volk gesprochen wird, und es muss ihn beschäftigen.
(Zuruf des Abg. Alexander Hoffmann [CDU/CSU])
Ein Bundeskanzler aber, dessen Mund bloß wiedergibt, was sein Ohr zuvor gehört hat, –
Sie müssen zum Schluss kommen!
– der ist nicht mehr als eine Echokammer auf zwei Beinen. Und Echokammern haben wir schon genug in unserer Gesellschaft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schützen wir das, was wir lieben: Schützen wir unsere Demokratie! Ich tue das in Zukunft von außen. Bitte tun Sie es von hier drin.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7629462 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 212 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zur Situation in Deutschland |