13.03.2025 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 213 / Tagesordnungspunkt 1, ZP

Lars KlingbeilSPD - Änderung des Grundgesetzes (Artikel 109, 115, 143h)

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind außergewöhnliche Zeiten, in denen wir hier zusammenkommen und weitreichende Entscheidungen treffen wollen. Manchmal hilft es, genau in solchen Momenten innezuhalten, einen Schritt herauszutreten aus dem, was einen den ganzen Tag sonst so umtreibt.

Hinter uns liegt ein heftiger Wahlkampf, ein Wahlkampf, der stellenweise tiefe Verletzungen hinterlassen hat, der Mitgliedschaften hier im Deutschen Bundestag beendet hat bzw. beenden wird – mit all den Konsequenzen, die das mit sich bringt. Engagierte, gute Abgeordnete mit ihren Teams werden jetzt ausscheiden.

(Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD])

Ich will für die SPD-Fraktion sagen: Ihr Ausscheiden ist verbunden mit einem tiefen Dank für die Arbeit, die diese Abgeordneten mit ihren Teams geleistet haben. Sie werden im Deutschen Bundestag fehlen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dieter Janecek [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Hinter uns liegen auch zwei Wochen Verhandlungen mit der Union. Kurswechsel, Ausfallschritte, Taktiken, rote Linien, die gezogen wurden, der Versuch, die eigene Basis mitzunehmen, das Gesicht zu wahren: Es war ein Verhandlungstunnel, in dem man sich in den letzten zwei Wochen befunden hat. Trotzdem glaube ich: Wenn wir hier heute zusammenkommen und diskutieren, macht es Sinn, die Dynamiken und Emotionen der letzten zwei Wochen herauszunehmen, einen Schritt herauszutreten und sich zu fragen: Worum geht es hier eigentlich wirklich, wenn wir über die Änderung des Grundgesetzes entscheiden?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachkriegsordnung ist ins Wanken geraten.

(Peter Boehringer [AfD]: Vorgestern um 14 Uhr!)

Die alte Ordnung ist noch nicht weg, und die neue Ordnung ist noch nicht da. Und zwei Flugstunden von hier entfernt führt Russland seit über drei Jahren einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Es ist mir an dieser Stelle übrigens ein Bedürfnis, unserem Bundeskanzler Olaf Scholz zu danken. Er hat die Zeitenwende erkannt. Er hat mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro schnell reagiert. Er hat die europäische und transatlantische Einigkeit organisiert, starke Bindungen zum Globalen Süden ausgebaut und vor allem mit der massiven Unterstützung der Ukraine gezeigt, welche Verantwortung Deutschland für den Frieden in Europa übernimmt. Lieber Herr Bundeskanzler, das ist Ihr Verdienst. Dafür ein großer Dank!

(Beifall bei der SPD – Peter Boehringer [AfD]: Zur Sache kommen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die internationale Lage hat sich in den letzten Wochen noch einmal dramatisch verschärft. Ich erinnere an die Rede des US-Vizepräsidenten J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Wir alle haben die Bilder noch vor Augen, als Präsident Selenskyj im Weißen Haus zu Besuch war, als Präsident Trump ankündigte, die Ukrainehilfe einzustellen – auch wenn er gerade wieder zurückrudert. Die Provokationen gegenüber der NATO durch Russland nehmen zu. Offene Drohungen gegen das Baltikum und andere europäische Staaten nehmen zu. Die Unberechenbarkeit des amerikanischen Präsidenten und die Verlässlichkeit des transatlantischen Verhältnisses sind weitere Faktoren.

Jetzt gibt es den Vorstoß für einen Waffenstillstand. Es ist unklar, ob das klappt, es ist unklar, was dies bedeutet, es ist unklar, was die Konsequenzen auch für uns hier in Europa sein können. Aber wir müssen vorbereitet sein; darum geht es doch. Wenn die Ukraine fällt, dann gerät auch der Frieden in der Europäischen Union in Gefahr. Und wir wissen doch, was Putins Ziele sind. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Unterstützung für die Ukraine, die aus der Mitte dieses Hauses immer wieder sichergestellt wurde, war doch keine Geste, die nur von rein menschlichen Motiven getrieben war. Es ging immer auch um unsere ureigensten Interessen, um die Sicherheit Deutschlands und darum, die Sicherheit in Europa aufrechtzuerhalten. Da müssen wir doch weitermachen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will, dass wir alles dafür tun, um das transatlantische Bündnis hochzuhalten. Ich will, dass wir immer wieder deutlich machen: Es ist für uns unverzichtbar. Aber wir dürfen uns doch nicht der Aufgabe entziehen, Europas Schicksal jetzt stärker in europäische Hände zu nehmen. Da kommt auf Deutschland eine Führungsrolle zu, und die müssen wir ausfüllen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen unsere eigene Verteidigungsfähigkeit so stark machen, dass wir nie wieder Krieg führen müssen – und nicht nur wir, sondern auch unsere europäischen Nachbarn. Um nichts weniger geht es. Es geht um unsere militärische Stärke, ja; aber es geht in gleichem Maße auch um wirtschaftliche und soziale Stärke. Wir wollen, dass Deutschland ein starkes Land in einem starken Europa ist. Und wer meint, das gelingt nur durch Investitionen in Sicherheitspolitik, der hat nicht verstanden, wie groß die Umbrüche dieser Zeit sind.

Deswegen geht es heute nicht nur darum, unsere Sicherheit besser zu finanzieren. Es ist gleichzeitig notwendig, dass wir unser Land auf Vordermann bringen, dass die Wirtschaft wieder wächst und das Leben vor Ort besser funktioniert, damit Deutschland die Rolle ausfüllen kann, die auf europäischer und internationaler Ebene von uns erwartet wird. Investitionen in unsere Sicherheit und in die Infrastruktur unseres Landes, das gehört zusammen. Das eine wird es ohne das andere nicht geben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Und ja, es stimmt, dass dies viele in diesem Hohen Hause schon vor Monaten, vor Jahren erwähnt haben. Der Bundeskanzler hat das getan, der Vizekanzler hat das getan, Rolf Mützenich und ich haben das getan und auch Herr Özdemir, Frau Baerbock, Frau Dröge, Frau Haßelmann. Selbst nach der Wahl haben wir immer wieder betont, wie wichtig diese Investitionen sind. Ich hätte mir übrigens gewünscht, dass die Frage „Wer bezahlt eigentlich diese Umbrüche?“ in den Berichterstattungen zum Wahlkampf, in den Duellen, in den Auseinandersetzungen eine viel größere Rolle gespielt hätte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber ich sage auch: Jede und jeder muss Positionen und Positionswechsel selbst erklären und öffentlich vertreten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen das übrigens nicht. Doch es geht nicht um die Frage, wer recht hat. Es geht auch nicht um die Frage, ob man sich gut fühlt. Es geht um Verantwortung, die wir gemeinsam tragen, und diese Verantwortung für Deutschland und Europa sollten wir wahrnehmen.

(Beifall bei der SPD)

Die Dringlichkeit ist doch mit den internationalen Entwicklungen der letzten Wochen und Monate begründet.

Diese Grundgesetzänderung, die wir auf den Weg bringen wollen, die wir heute hier in erster Lesung beraten und über die wir nächste Woche entscheiden werden, hat das Potenzial, unser Land über die Legislatur hinaus – auf Jahre, vielleicht auf Jahrzehnte – in eine wichtige Richtung zu bewegen.

Wir schlagen eine Grundgesetzänderung in einem Dreischritt vor:

Erstens. Wir wollen Verteidigungsausgaben, die 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen, von der Schuldenregel ausnehmen. Das stärkt die Spielräume für die Landes- und Bündnisverteidigung. Wir tun das, was notwendig ist, um Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa zu gewährleisten.

Zweitens wollen wir mit einem Sondervermögen von über 500 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren mehr Investitionen in die wirtschaftliche Kraft und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sicherstellen.

Drittens schaffen wir zusätzliche begrenzte Kreditmöglichkeiten für die Länder, die schon seit Jahren parteiübergreifend dafür werben.

Gleichzeitig haben wir eine politische Verständigung, dass mit einer Expertenkommission Vorschläge für die grundlegende Modernisierung der Schuldenbremse gemacht werden mit dem Ziel, noch im Jahr 2025 hier zu politischen Entscheidungen zu kommen.

Dabei ist für uns und für mich völlig klar: Nur mit Geld lassen sich die Probleme unseres Landes nicht lösen. Wir müssen Strukturen verbessern, wir müssen effizienter werden, und das auf allen Ebenen. Wir müssen eine Staatsmodernisierung vorantreiben, die dafür sorgt, dass öffentliche Mittel schnell, zielgenau und effektiv ausgegeben werden können. Hierfür gibt es viele gute Ideen, die auf dem Tisch liegen. Ich kann für die SPD nur sagen: Bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen ist das für uns ein elementarer Punkt.

Die Schritte, die wir mit diesen Grundgesetzänderungen gehen wollen, sind historisch. Deswegen braucht es eine breite Mehrheit hier in der demokratischen Mitte dieses Parlamentes. Ich darf das sagen: Wir Sozialdemokraten und die Union haben in den letzten Tagen viele gute Gespräche mit den Grünen geführt, die berechtigte Anliegen vorgebracht haben, um dieses Paket hier weiter zu verbessern und in ihrem Sinne zu gestalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns gelingen sollte, zu einer Einigung zu kommen. Wir haben Punkte vorgeschlagen, auf die wir uns, glaube ich, schnell verständigen könnten. Es geht darum, dass die militärische Unterstützung der Ukraine, die Finanzierung des zivilen Katastrophenschutzes oder der Nachrichtendienste auch oberhalb von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von der Schuldenbremse ausgenommen werden können. Das sind übrigens Maßnahmen, die sehr schnell schon sehr wichtig werden können, wenn es darum geht, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen.

Wir haben angeboten, das Sondervermögen Infrastruktur um den Aspekt des Klimaschutzes zu erweitern, aber nicht nur als Begrifflichkeit, sondern auch mit festen finanziellen Zusagen. Wir haben auch dafür gesorgt, dass Gelder aus dem Sondervermögen auch in den Klima- und Transformationsfonds gegeben werden können.

Wir haben die feste Zusage gemacht, dass Sie bei der Ausgestaltung des Sondervermögens und bei der Reform der Schuldenbremse in der kommenden Legislatur eng eingebunden sind und daran mitarbeiten. Und auch beim Thema Zusätzlichkeit bin ich sehr klar: Wir kriegen eine gemeinsame Lösung hin.

Sie haben doch die Sorge – um es hier einmal auszusprechen –, dass wir mit dem Sondervermögen die Mütterrente oder die Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie finanzieren. Ich kann Ihnen hier am Pult sehr klar sagen: Das wollen wir nicht. Es geht darum, dass wir einen Investitionsbooster in diesem Land auslösen

(Lachen des Abg. Felix Banaszak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und dafür sorgen, dass viel mehr Investitionen auf den Weg gebracht werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt jetzt ein Paket auf dem Tisch, mit dem massiv in unsere Sicherheit investiert, massiv die Unterstützung der Ukraine gewährleistet wird, Investitionen in den Klimaschutz und für wirtschaftliches Wachstum in unserem Land gewährleistet werden.

Treten wir jetzt noch mal einen Schritt zurück und fragen uns: Können wir uns eigentlich wirklich leisten, dass das scheitert? Meine klare Antwort ist: Nein. Das würde einen erheblichen Reputationsverlust für unser Land mit sich bringen. Wir haben doch die Reaktionen in der letzten Woche gesehen: Die Institute haben die Wachstumsprognosen für Deutschland nach oben korrigiert. Der Euro ist so stark wie lange nicht. Internationale Medien sprechen von einem möglichen Comeback Europas, angetrieben durch ein starkes Deutschland. Viele haben doch genau auf einen solchen Befreiungsschlag gewartet.

Es ist höchste Zeit, dass wir Fesseln in diesem Land lösen und dass wir, wie andere das sagen, in der Wirklichkeit ankommen. Deutschland muss vorangehen für ein starkes, für ein einiges Europa, und dafür legen wir hier die Grundlagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hart verhandeln, das ist richtig. Interessen einbringen, das ist richtig. Veränderungen einfordern, das ist richtig, und das ist das gute Recht der Opposition. Aber vielleicht geht es in diesem Moment auch darum, eine historische Chance nicht leichtfertig zu verspielen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Geschichte anklopft, dann muss man die Tür öffnen, weil man niemals weiß, ob es eine zweite Chance dafür gibt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Peter Boehringer [AfD])

Als Nächster hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der AfD: Wahlbetrüger!)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7629968
Wahlperiode 20
Sitzung 213
Tagesordnungspunkt Änderung des Grundgesetzes (Artikel 109, 115, 143h)
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