Norbert Lammert - Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen! Ich schließe mich dem Glückwunsch für meinen Herrn Vorredner zu seiner Jungfernrede an. Das gibt mir die Gelegenheit, zu dem Punkt aus dem Themenkatalog der CSU, der heute ein wenig leise Kritik von Ihnen auf sich gezogen hat, den Herrn Fraktionsvorsitzenden der SPD, unseren Kollegen Oppermann, zu zitieren. Er hat sich vor wenigen Tagen dazu geäußert, nachdem die Bundesregierung auf unsere gemeinsame Initiative hin einen Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat – ich zitiere –:
Besser kann man es nicht ausdrücken, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich teile Ihre Auffassung, dass uns eine Strategie der diffamierten Negativgruppen nicht weiterhilft, sondern auf allen Seiten zum Scheitern verurteilt ist. „ Populistisches Herumgeschreie“, wie Frau Kollegin Baerbock es ausgedrückt hat, brauchen wir nicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich darf in diesem Zusammenhang aber an eine Debatte aus der Zeit von Rot-Grün erinnern, auch wenn die lichten Tage der rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder und Vizekanzler Fischer ja schon einige Zeit vorbei sind. Damals hat der Regierungschef von Rot- Grün in der Debatte über die Notwendigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen erklärt: „Raus, aber schnell.“ Zu derart sensiblen Äußerungen waren wir bisher nicht in der Lage.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
– Wo bleibt der Beifall?
Es ist auch richtig, dass niemand ein Interesse daran haben kann, die Menschen, die aus den Donau-Ländern zu uns kommen, herunterzureden, zu diskreditieren. Wir wollen dies nicht, und wir wehren uns dagegen. Wir in Bayern sind stolz darauf, dass sich diese Menschen in so großer Zahl im Freistaat niederlassen und sich, wenn alle Umfragen stimmen, bei uns ziemlich wohlfühlen, nicht so wohl wie in Dortmund oder Essen, aber immerhin, wir arbeiten daran.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind gegen „populistisches Herumgeschreie“, aber auch gegen gutmenschliche Heuchelei.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wenn wir uns auf dieses beides einigen können, dann können wir weiterkommen. Ich muss aber auch ganz offen sagen: Wir werden bei dieser Thematik keine Ruhe geben. Das sollten Sie auch nicht. Wir erwarten, dass der Bericht des Staatssekretärsausschusses zügig vorgelegt wird. Wir erwarten auch, dass nicht nur die Regierungen Bulgariens und Rumäniens, die sich letztlich noch im Aufbau befinden, sondern auch die EU-Kommission und insbesondere der presseerklärungsfreudige EU-Kommissar Andor alles tun, dass der derzeitige skandalöse Zustand, dass von dem Etat von 27 Milliarden Euro, den die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für Bulgarien und Rumänien für Maßnahmen zur Arbeitsintegration, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Sozialhilfe zur Verfügung gestellt haben, wovon 10 Milliarden Euro die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Bundesrepublik Deutschland bezahlt haben, nicht länger über 50 Prozent auf der hohen Kante liegen, sondern endlich eingesetzt werden. Sie sollten uns unterstützen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir das verlangen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An die eigene Nase fassen!)
– Ich verstehe offen gesagt kein Wort.
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– Ich meine das wirklich nur akustisch.
Das hängt auch damit zusammen, dass es doch überhaupt kein Argument ist, dass auch bei uns solche Mittel nicht abgerufen werden. Auch der Städtetag muss sich diese Fragen gefallen lassen. Er hat einen Brandbrief mit drastischen Formulierungen – ich möchte sie aus Zeitgründen nicht wiederholen – an alle Parteien geschrieben.
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Dieser Brief ging auch an Sie. Der Städtetag fordert: Tut endlich etwas; wir brauchen die Geldmittel. Doch dann erfährt man – Stichwort „eigene Nase“ –, dass große Beträge nicht abgerufen worden sind. Das ist doch zum Verzweifeln. Da braucht man sich doch nicht zu wundern, dass die Betroffenen fragen: Wie ist es um das politische Management in unserer Gesellschaft und die politische Klasse überhaupt bestellt? Die Beteiligten täten gut daran – ich sage das als Kontrapunkt zu dieser Debatte –, baldmöglichst einen Bericht vorzulegen, wie diese Mittel endlich eingesetzt werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege Sarrazin hat in einem Beitrag eines Historikers etwas gesagt, was ich hier aufgreifen möchte. Er hat gesagt, es wird versäumt, die guten Argumente für Europa – wir reden hier über das Arbeitsprogramm der Kommission für 2014 – stark zu machen. Er hat aber auch gesagt, dass man über Europa streiten können muss; das heißt, dass nicht jede Abweichung um einen Millimeter vom Papier sofort mit dem Verdikt „Europafeind“ belastet wird.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wenn ein Klima geschaffen wird, dass man an der Europäischen Kommission keine Kritik mehr üben kann, ohne den Vorwurf auf sich zu ziehen, sich in blindem Nationalismus zu ergehen, dann tun Sie der Diskussion keinen Gefallen. Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit sind der Ausgangspunkt des Zusammenschlusses, und Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit sind durch Überregulierungs-, Verbots- und Vorschriftenwahn aus Brüssel schwer in Bedrängnis gekommen. Wer dies nicht sieht, egal ob er links oder rechts ist, ist blind und taub.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deswegen muss die Entbürokratisierung bei der Europäischen Union anfangen.
(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Herrn Stoiber hinschicken!)
Ich zitiere wieder einen Kollegen aus Ihrer Mitte: Deswegen müssen wir auch ein Programm entwickeln, Aufgaben von der Europäischen Union wieder auf die tiefere Ebene herunterzulegen. – Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments.
Herr Kollege Gauweiler, darf die Kollegin Brantner Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Wenn ich den einen Satz noch beenden darf.
Aber klar.
Herr Schulz hat recht, wenn er sagt:
Wir erwarten hier einen Arbeitskatalog über die Themenbereiche, die wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden können.
Bitte, Frau Kollegin.
Wie Sie wissen, ist in Brüssel für die Entbürokratisierung Ihr Kollege Stoiber zuständig. Wenn Sie das hier einfordern und sagen: „Da passiert nicht genug“, würden Sie dann also zugeben, dass Herr Stoiber die letzten Jahre – er ist ja schon seit Jahren dort – nicht gut genug die Arbeit vorangetrieben hat?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Das war ja hammerhart.
(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aber parlamentarisch zulässig, Herr Kollege Gauweiler.
(Heiterkeit – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/ CSU]: Hammerhart an der Grenze!)
Das war ja durchaus liebevoll von mir. „ Parlamentarisch zulässig“. Sie bräuchten Hundert Stoibers, wenn ich Ihnen das ganz offen sagen darf, um das anzugehen.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und einen Transrapid!)
Frau Kollegin, ich darf jemanden zitieren, der Ihnen vielleicht noch näher ist als ich, und zwar den Philosophen Jürgen Habermas. Er sagte in einem Vortrag mit dem Titel „Wie demokratisch ist die EU?“:
Deshalb erwarte ich mir von Ihnen nicht nur geistreiche Zwischenfragen, sondern ein aktives Eintreten auch von Ihnen als Grüne, dass Sie sagen: Mit einem Superstaat ist das Problem der Demokratie nicht gelöst, sondern darin kann auch eine Gefährdung liegen.
Ich wollte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der dies fortsetzt. In dem EU-Arbeitsprogramm, über das wir reden, wird das geplante Freihandelsabkommen mit den USA ganz kurz angesprochen. Wir begrüßen dieses Freihandelsabkommen. Wir hatten den amerikanischen Botschafter zu unserer Tagung im Tegernseer Tal eingeladen. Aber dieses Abkommen hat viele Probleme: Die Verhandlungen werden in einem absoluten Geheimverfahren geführt. Im Oktober soll ein Vertrag unterschrieben werden. Das Papier umfasst jetzt, wie man hört, 1 000 Seiten. Es kann nicht angehen, dass der Bundestag dann nach bekanntem Muster im Oktober wieder drei Tage bekommt, um die Sache schnell zu überprüfen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In diesem Vertrag sind sogenannte Schiedsgerichte vorgesehen. Diese gelten für alle amerikanischen Freihandelsabkommen. Vor einem solchen Schiedsgericht kann dann der Investor gegen den Staat wegen Benachteiligung aller Art klagen, aber der umgekehrte Weg ist nicht möglich. Auch diese Verhandlungen sind geheim. Sie können auf diesem Wege die örtlichen Rechtssituationen, Umweltschutzrecht, Datenschutzrecht, alles, was hier uns allen gemeinsam hoch und wichtig ist, aushebeln. Sie können die örtliche Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten aushebeln.
Ich halte das bei aller Liebe zum Zentralismus, zum Großstaat, zu diesem Erdteil, „Alle sprechen nur mit einer Stimme“, für einen gefährlichen Weg. Deswegen haben wir uns in der Großen Koalition entschlossen, im Koalitionsvertrag festzulegen, dass die Voraussetzung für dieses Abkommen nicht nur die Einhaltung demokratischer Normen ist – das ist ja eine Selbstverständlichkeit –, sondern auch der Erhalt unserer Gerichtsbarkeit und die Verteidigung unserer Rechtssituation. Wir müssen nach Unterzeichnung dieses Abkommens immer noch unsere örtlichen Regeln in Bayern, in Nordrhein- Westfalen oder sonst wo ändern oder unter Umständen verschärfen können. Wir erwarten, dass die Bundesregierung alsbald verlangt – sie hat es bereits angekündigt; aber bisher noch nicht getan –, dass die EU den Rat und die nationalen Parlamente über den Stand der Verhandlungen und den Inhalt dieses Abkommens informiert.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Kollege Gauweiler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Gehrcke?
Immer.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Herzlichen Dank, Kollege Gauweiler. Habe ich Ihre klare Begründung der Ablehnung eines Abschlusses des Freihandelsabkommens richtig verstanden, dass Sie also der Meinung sind, dass es, wenn es so bleibt – so haben Sie es formuliert –, eigentlich Aufgabe des Bundestages wäre, die Bundesregierung aufzufordern, ein solches Freihandelsabkommen im Rahmen der EU nicht zu unterstützen und die Verhandlungen abzubrechen?
Da haben Sie mich richtig verstanden. Sie haben aber außerdem gesehen: Ich habe es als Erfolg dargestellt, dass die Große Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung genau an dieser Stelle den Finger in die Wunde gelegt hat und Voraussetzungen geschaffen hat, die für die Zustimmung zu diesem Abkommen unabdingbar sind. Wenn uns die Linke hier unterstützt, dann freut sich die CSU besonders darüber.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
Ich wollte noch eine ganze Menge zu Ihnen sagen, zum Beispiel zu strengeren Regeln auf den Finanzmärkten, zur Außenpolitik und zur notwendigen Entschlackung des Auswärtigen Dienstes der EU – es ist völlig verrückt, hier eine Institution mit 6 000 oder 9 000 Planstellen vorzusehen –, zu unserem lieben Euro und zur Unmöglichkeit, eine Bankenrettung direkt aus Mitteln des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu bezahlen.
Ich sehe gerade, dass der Herr Präsident das Lämpchen blinken lässt.
Die Frau Präsidentin! Aber das Blinken bleibt das gleiche.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Das ist eine Jungfernunterbrechung durch diese Präsidentin, wenn ich das einmal sagen darf.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3048068 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 9 |
Tagesordnungspunkt | Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission |