Gerold ReichenbachSPD - Demokratie verteidigen
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Schriftsteller auf der Tribüne, Sie haben mit Ihrem Apell auf ein grundlegendes Problem aufmerksam gemacht, dem wir als Parlamentarier, als Staat und als Gesellschaft beim Eintritt in dieses neue digitale Zeitalter gegenüberstehen. Auch der Präsident des Europäischen Parlaments, unser Spitzenkandidat für die Europawahl, Martin Schulz – das ist ja schon erwähnt worden –, hat in dieser Woche in einem beeindruckenden Aufsatz das totalitäre Potenzial des Internets und der digitalen Revolution deutlich gemacht. Er hat das treffend beschrieben: Wir stehen vor großen Herausforderungen. – Übrigens, lieber Herr Konstantin von Notz, bei allem Bemühen, sich in der Opposition zu profilieren, sollten Sie hier nicht wahrheitswidrig behaupten, die SPD-Abgeordneten hätten im Europaparlament gegen die sichere Aufnahme von Snowden gestimmt. Sie haben dafür gestimmt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das rausgestrichen aus der Beschlussvorlage!)
Die Möglichkeiten und Vorteile dieser neuen, digitalen Ära, von der viele sagen, sie werde prägender sein als die industrielle Revolution, sind vielfältig. Sie betreffen den Wirtschaftsbereich, das Privatleben, die alltägliche Lebensführung, und die Möglichkeiten werden noch immens steigen. Die Kehrseite dieser Medaille aber ist, dass wir die Netze und ihre Nutzer besser schützen müssen; das ist eine wachsende Erkenntnis. Trotz dieser Erkenntnis, die schon oft, zuletzt in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, thematisiert wurde, haben uns die Offenbarungen von Snowden ein Stück weit erschreckt. Das ist unter anderem Anlass für die heutige Debatte. Es geht um den Umgang mit Datenkraken wie Google und Facebook, und es geht um die Gefahr für unsere Demokratie, die von undurchsichtig agierenden und unkontrollierten Nachrichtendiensten und von der Zusammenarbeit zwischen beiden ausgeht. Um es grundlegend zu formulieren: Es geht um unser Demokratieverständnis in einem digitalen Zeitalter. Es geht darum, wie wir den Anspruch des Grundgesetzes – die Kollegin Müntefering hat es formuliert – auch im digitalen Zeitalter umsetzen.
Dem Grundgedanken, dass der Staat die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich schützen muss und dass umgekehrt der Bürger grundsätzlich vor der Übermacht des Staates geschützt werden muss, folgt jetzt die Erkenntnis, dass dies bei weitem nicht reicht, dass es auch um den Schutz der Daten im privaten und im persönlichen Bereich geht. Dies gilt insbesondere im Verhältnis privater Organisationen und Wirtschaftsunternehmen zum Individuum. Denn viele Daten, die die Nachrichtendienste nutzen – ich habe es angesprochen –, haben sie gar nicht selbst erhoben. Vielmehr greifen die Dienste, teilweise sogar auf legalem Wege, auf Daten zurück, die private Wirtschaftsunternehmen en masse sammeln. Da ist es, liebe Kollegen von der CDU, auch nicht damit getan, zu sagen, jeder wisse, welche Daten er ins Interstellt stellt. Niemand wusste, welche Daten die berühmte App „Angry Birds“, die man gerne benutzt hat, um zu spielen, auf dem Smartphone abgreift und wohin diese Daten gehen. Niemand wollte diese Daten bewusst für andere ins Netz stellen. Die Leute, die die App benutzt haben, wollten nur spielen; sie haben nicht mitbekommen, dass sie sowohl von dem App-Produzenten als auch von der NSA bis ins letzte Detail ausspioniert worden sind. Davor gilt es die Menschen in Zukunft zu schützen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Die Intention der Wirtschaftsunternehmen für ihre Datensammelwut ist die gleiche wie die der Nachrichtendienste, nämlich die Kontrolle über das Individuum. Deswegen ist diese Agglomeration auch so gefährlich für unsere Demokratie. Bei den einen geht es um das Individuum als Wirtschaftsobjekt, als Marktteilnehmer; bei den anderen geht es um das Individuum als Staatsbürger und als potenzieller Gefährder. Das hat Konsequenzen weit über die Grenzen des Staates hinaus. Denn die zunehmende Entgrenzung, die der digitalen Entwicklung zu eigen ist und die zum Teil auch ihre Vorteile ausmacht, ist gleichzeitig die neue Herausforderung. Datenschutz ist heute nicht mehr nur eine Frage des Schutzes von Persönlichkeitsrechten, sondern auch eine Frage der nationalen Sicherheit und der nationalen Souveränität.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Wenn Staaten die Fähigkeit verlieren, sich schützend vor ihre Bürger zu stellen, egal ob gegenüber dem Ausspionieren durch fremde Mächte oder gegenüber dem Anspruch international agierender Konzerne, sich nicht mehr an deutsches oder europäisches Recht halten zu müssen, dann verlieren sie langfristig ihre Legitimation. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir alle wissen: Das den Staaten zur Verfügung stehende Zoll- und Grenzregime ist in der digitalen Zeit wirkungslos geworden. Wir müssen uns einmal anschauen, was die eigentliche Qualität dessen ist, was Snowden offenbart hat. Bei aller Schwere des Vorgangs ist es dennoch nicht die Tatsache, dass das Handy der Kanzlerin und die Handys von Regierungsmitgliedern ausspioniert wurden. Solche Abhöraktionen kennen wir schließlich aus den letzten Jahrhunderten.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht von Freunden!)
Die eigentlich neue Qualität ist, dass aufgrund der erhobenen Daten amerikanische Behörden in einer Art und in einem Umfang Kontrolle über die Bürger der Bundesrepublik Deutschland erlangt haben, wie dies früher noch nicht einmal möglich war, wenn man militärisch einmarschiert ist und das Land besetzt hat. Das ist die eigentlich neue Qualität, der wir gegenüberstehen. Man könnte es sogar auf die Spitze treiben und sagen: Im digitalen Zeitalter verliert zum Teil sogar das Militärische seine Schutzfunktion.
Demokratie bedeutet für uns vor allem die Freiheit des Einzelnen. Sie kann aber nur fortbestehen, wenn wir es als Staat schaffen, die Integrität der informationstechnischen Systeme, die zum Teil Abbild der Persönlichkeit und der eigenen persönlichen Ausdrücke, Empfindungen, Regungen und Beziehungen sind, zu schützen, was durch das Grundgesetz und die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung, zur Vorratsdatenspeicherung und zu den sogenannten Bundestrojanern sichergestellt werden soll. Das ist die eigentliche Aufgabe, dir vor uns liegt. Ich sage auch – durchaus konform mit kritischen Stimmen –: Das werden wir nicht schaffen, indem wir die Überwachung weiter ausdehnen. Wir dürfen nicht nur kritisieren, was andere an Kontrolle und Überwachung anstreben, sondern müssen auch zwischen der Einengung der Freiheit und einer gebührend umfassenden Sicherheit qualitativ abwägen. Mit dieser Abwägung werden wir uns jeden Tag befassen müssen. Das geht nicht mit einem ideologischen Ja oder Nein. Dafür ist dieser Abwägungsgegenstand viel zu schwierig.
(Beifall bei der SPD)
Kollege Reichenbach, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Wawzyniak?
Ja, klar.
Kollege Reichenbach, ich möchte Sie direkt fragen. Sie haben gerade über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesprochen. Wie, denken Sie, soll das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingehalten werden, wenn der Justizminister, wie im Rechtsausschuss angekündigt, selbst bei einer Unzulässigkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung ein deutsches Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vorlegen möchte, und zwar präventiv, bevor eine neue EU-Richtlinie vorliegt, um mit diesem Gesetz auf eine neue Richtlinie Einfluss zu nehmen? Ich frage Sie: Wie wollen Sie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sicherstellen, wenn ohne EU-rechtliche Grundlage die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland eingeführt werden soll?
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!)
Liebe Halina, die umständliche Art und Weise, wie du deine Frage formulieren musstest, zeigt mir eigentlich schon, dass du Heiko Maas offensichtlich falsch verstanden hast.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aha!)
Er hat nicht gesagt, dass er für den Fall, dass die Richtlinie für unzulässig erklärt wird, ein Gesetz vorbereiten wird. Das ist völliger Unsinn.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was hat er denn gesagt?)
Wenn der Europäische Gerichtshof sagt, dass die Richtlinie als Ganze mit den europäischen Menschenrechten nicht vereinbar ist, dann wird ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland nicht hingehen und sagen: Aber wir machen trotzdem ein Gesetz, das auf dieser Richtlinie basiert. – Das wäre ja geradezu rechtswidrig. Das steht gar nicht zur Debatte.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut zu hören! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das werden wir sehen!)
Die Frage ist am Ende: Wie urteilt der Europäische Gerichtshof? Welche Teile der Richtlinie werden aufgehoben? Welche Teile haben weiterhin Bestand? Gibt es weiterhin – und darum geht es im Koalitionsvertrag – eine Umsetzungspflicht? Oder: Ist durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes die Umsetzungspflicht für die Staaten, die die Richtlinie noch nicht umgesetzt haben, entfallen? Gibt es lediglich eine Übergangsfrist für die Staaten, die sie bereits umgesetzt haben, und zwar so lange, bis der europäische Gesetzgeber das Ganze neu geordnet und neu aufgesetzt hat? Darum geht es. Es geht nicht darum, nach dem alten Motto zu verfahren: Schnurzegal, was die in Brüssel machen. Wir machen das schon. – Dieses Bild, das Sie von der Koalition aus CDU/CSU und SPD zu zeichnen versuchen, ist grundlegend falsch.
(Beifall bei der SPD)
Lassen Sie mich zum Gegenstand zurückkommen. Die Frage ist am Ende: Wie können wir das durchsetzen? Das wird nicht mit der Silver Bullet oder mit dem Grundsatz „one fits all“ geschehen können. Dazu brauchen wir das Marktortprinzip, die Durchsetzung von Datenschutzanforderungen im Rahmen einer europäischen Datenschutzverordnung gegenüber dem privaten Bereich, wonach Staaten von diesen Ansprüchen nicht einfach freigestellt werden und wonach jemand, der gesetzwidrig Daten an Dritte preisgibt, ohne dass es ein Abkommen zur Weitergabe gibt – egal wie die Rechtslage im jeweiligen Land ist –, Strafe fürchten muss. Wir brauchen aber nicht nur das Marktortprinzip, sondern auch das Prinzip der informierten Zustimmung. Dazu gehört natürlich, dass wir die Daten, die wir in Europa schützen, nicht relativ unkontrolliert bzw. mit schwacher Kontrolle an Drittstaaten weitergeben oder weitergeben lassen. Das heißt, wir müssen die europäischen Abkommen auf den Prüfstand stellen. Ich begrüße durchaus, dass das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert hat, das Safe-Habor-Abkommen auf den Prüfstand zu stellen und aufzukündigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Edward Snowden gehört unser Dank, die Debatte angestoßen zu haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Die Frage ist nicht, ob, sondern welche Konsequenzen wir aus der NSA-Affäre ziehen müssen. Dazu kann der Untersuchungsausschuss einen Beitrag leisten. Dem sollten wir nicht mit dem, was die Grünen in der letzten Legislaturperiode beantragt haben, vorgreifen.
Sehr geehrte Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehen es als Aufgabe an – das steht in der Tradition unserer 150-jährigen Geschichte –, dafür zu sorgen, dass das neue, digitale Zeitalter zu einem Zeitalter der Freiheit und des Wohlstandes der Bürger und nicht zu einem Zeitalter des fremdbestimmten Individuums durch Wirtschaftsinteressen und Kontrolleure wird. Dafür werden wir uns in dieser Legislaturperiode und in dieser Koalition einsetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Konstantin von Notz das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3128984 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 15 |
Tagesordnungspunkt | Demokratie verteidigen |