09.04.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 29 / Einzelplan 04

Katrin Göring-EckardtDIE GRÜNEN - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 100 Tage Schonfrist gesteht man jeder neuen Regierung zu.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Der Opposition auch!)

Union und SPD haben viele geschont, vor allem sich selbst.

Heute behaupten Sie, Sie machten keine Schulden.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Machen wir auch nicht!)

Ich sage Ihnen: Doch, Sie verschulden sich: an den Jungen, an den Armen und an der Umwelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie machen Politik für die Babyboomer – das wussten wir schon –, seit neuestem auch für die BASF, die sich sehr freut. Sie sind so etwas wie eine Amigo-Generation. Die Generation der unter 30-Jährigen jedenfalls hat bei Ihnen nichts zu lachen.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Fragen Sie die doch mal!)

Die Industrieprivilegien beim EEG und damit die Mehrkosten für Verbraucherinnen und Verbraucher, die Sie alle gerade verabredet haben, sind auf einem Niveau, das früher wenigstens jedem Sozialdemokraten die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie verschieben jede schwierige Entscheidung auf die nächste Legislaturperiode. Fast könnte man glauben: Jeder von Ihnen hofft darauf, an der nächsten Regierung nicht beteiligt zu sein, damit Sie diesen Schlamassel nicht ausbaden müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie hieß doch damals der Spruch der westdeutschen Jugend? Erst wenn die letzte Rentenkasse geplündert, die letzte Sozialkasse geleert und alle Schulden angehäuft sind, werden Sie merken, dass man Koalitionsverträge nicht essen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Erinnerung: In der letzten Großen Koalition wollten Sie noch etwas erreichen, ganz unabhängig davon, wie man das im Einzelnen findet. Damals haben Sie mit einer kleineren Mehrheit die Föderalismusreform gestemmt, die Rente mit 67 eingeführt, Subventionen abgebaut, die teuer, aber populär waren, und auf den letzten Metern sogar noch die Schuldenbremse eingeführt. Damals hatte man wenigstens noch das Gefühl, Sie wollen Verantwortung übernehmen.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben die Verantwortung verweigert!)

Heute sind wir bei „Wünsch dir was“. Der Unterschied zum Märchen mit der guten Fee ist allerdings: Hier hat nicht jeder drei Wünsche frei, sondern jedes Mal, wenn einem ein neuer Wunsch einfällt, kriegt der andere noch einen obendrauf erfüllt. Mit Verantwortung hat das nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Heute wickelt die eine Hälfte von Ihnen die eigene Parteigeschichte ab, inklusive Franz Müntefering, während sich die andere auf den volkswirtschaftlichen Resten ausruht, die dann noch übrig bleiben. Meine Damen und Herren, Sie haben 504 Mandate im Deutschen Bundestag.

(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das hat der Wähler entschieden!)

Aber, ehrlich gesagt, in diesen 100 Tagen gab es noch keine einzige neue Idee.

Sie beide vereint nicht etwa die Leidenschaft, Deutschland für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Sie verteilen lieber leidenschaftlich, was Sie nicht bezahlen können. Sie bestellen; die Kinder und Enkel bezahlen. Sie machen Politik nach der Formel „Rente mit 70 minus 63 ist gleich Mütterrente“. Ich finde das absurd. Ich finde, das hat mit Zukunft nichts zu tun, und mit Verantwortung für die Zukunft erst recht nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!)

Das Ganze kostet, wie Sie wissen, 160 Milliarden Euro. Für die Schulsozialarbeit – ich glaube, keiner wird einen Deut daran zweifeln, wie wichtig sie ist – werden 400 Millionen Euro fehlen. Aber die Schüler dürfen nicht wählen, und die Kommunen und Länder nörgeln ja eh immer nur herum.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Manche!)

Ich habe den Eindruck, Sie vergessen völlig, worauf es eigentlich ankommt.

Liebe SPD, es ging ganz fix: Zuerst war es noch ein zentrales Thema, dass die Kommunen und Länder unterstützt werden und wir in Bildung und Kinder investieren. Jetzt handeln Sie nach dem Motto „2018 reicht auch noch“. Das ist eine Mogelpackung, Frau Merkel. Sie unterstützen die Kommunen nicht, sondern Sie verschieben es auf die Zukunft, und Sie bauen gerade an den Stellen ab, wo es um diejenigen geht, die besonders viel Hilfe bräuchten. Deswegen sage ich Ihnen: Auch das hat nichts mit Verantwortung zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Diese Rede auch nicht!)

Die Wahrheit ist: Die Kommunen ächzen nach wie vor unter dem Verfall der öffentlichen Infrastruktur. Das Land lebt in Teilen von seiner Substanz. Vorhandene Straßen und Brücken müssen gelegentlich repariert werden. Ich weiß, dass Sie es komisch finden, wenn das eine Grüne sagt. Aber in diesem Punkt sind wir, ehrlich gesagt, ganz altmodisch: Erst repariert man etwas, bevor etwas Neues angeschafft wird. Das kann ja nicht so schwer sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass Sie vom Breitbandausbau reden, aber faktisch überhaupt nichts dafür tun, ist absurd. Das zeigt, dass es Ihnen auch ökonomisch und gesellschaftlich nicht um die Zukunft geht. Herr Dobrindt hat gesagt, er will lieber ein schnelleres Netz in den Bayerischen Wald bringen, statt zu twittern. Jetzt stellen wir fest: Herr Dobrindt twittert nicht, aber das schnelle Netz im Bayerischen Wald wird es leider auch nicht geben.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Da täuschen Sie sich aber gewaltig! Da kennen Sie den Bayerischen Wald nicht!)

Ich habe das Gefühl, dass Herr Dobrindt sich ganz heimlich wahnsinnig doll um die Maut für Pkw kümmert, von der wir ewig lange nichts gehört haben. Ich bin sehr gespannt, wann Sie wirklich Internet- und Infrastrukturminister werden, Herr Dobrindt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahrscheinlich nie!)

Innenpolitisch habe ich den Eindruck, Frau Merkel, Sie machen denselben Fehler wie Kohl in den 90ern: Sie regieren faktisch in der Komfortzone. Vielleicht sollte man auch das einmal in Erinnerung rufen: Zukunft ist nicht die nächste Legislaturperiode. Zukunft ist die Zeit, in der unsere Kinder Verantwortung für dieses Land übernehmen. Dass es in Ihren Fraktionen wenigstens noch ein paar junge Abgeordnete gibt, die Ansätze einer Kritik an diesen Verschiebebahnhöfen und dem kurzfristigen Verscherbeln äußern, ist jedenfalls ein kleiner Beweis dafür, dass es bei Ihnen noch ein bisschen Lebendigkeit gibt. In der letzten halben Stunde hatte ich allerdings, ehrlich gesagt, nicht das Gefühl, dass es hier sehr viel Wachheit und Leidenschaft gab.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden sagen: Die Leute mögen mich ja dafür. – Das mag sein, aber es reicht eben nicht, nur zu tun, was gerade gefällt. Können unsere Enkel eigentlich noch entscheiden, wo und wie sie leben wollen? Ist die Luft noch sauber genug? Ist der Wald hinter dem Haus eigentlich noch da, und kann man noch die berühmte Schlüsselblume sehen, außer bei Wikipedia?

(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)

– Sie finden das offenbar lustig. Ich finde es nicht lustig.

Jeden Tag wird in Deutschland eine Fläche von über 100 Fußballfeldern mit Häusern und Straßen bebaut. Jeden Tag verschwinden zwischen 50 und 100 Arten. Da Sie das lustig finden, sage ich Ihnen: Nein, das ist nicht albern. Man kann nicht am Sonntag von der Bewahrung der Schöpfung reden und gleichzeitig die Massentierhaltung fördern

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Immer dieses Sendungsbewusstsein! Das ist albern!)

und in Brüssel gegen den eigenen Koalitionsvertrag und gegen den Willen einer übergroßen Mehrheit in Deutschland dafür sorgen, dass Genmais zugelassen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können dann nicht sagen: Es ist uns egal, dass das Zeug im Supermarktregal steht und nicht gekennzeichnet wird.

Wenn Frau Hendricks und Herr Gabriel in der Klimapolitik so weitermachen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie sich einmal die Berichte an. Schauen Sie sich einmal an, was uns die Wissenschaftler gerade wieder in das Stammbuch geschrieben haben. Wenn Sie so weitermachen, dann wird Olaf Scholz eines Tages, wenn er dann noch regiert, seinen Stadtstaat nur noch vom Schiff aus befahren können, weil er die Deiche gar nicht hoch genug bauen lassen konnte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die CO 2 -Emissionen steigen wieder. Wenn Sie so weitermachen, dann verfehlt Deutschland das Klimaziel von minus 40 Prozent nicht nur knapp, sondern krachend. Schwarz-rote Klimapolitik scheint vor allen Dingen dafür da zu sein, dass das Klima in der Koalition stimmt

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch wichtig! – Thomas Oppermann [SPD]: Besser als in der Opposition!)

und dass die Industrie es wirklich gut hat. Ein Klimaaktionsplan wurde angekündigt. Umsetzung? – Fehlanzeige! Eine Reform des Emissionshandels wurde angekündigt. Umsetzung? – Null! Die Kürzung der Mittel für den internationalen Klimaschutz um mehrere Hundert Millionen im Bundeshaushalt haben Sie allerdings ganz schnell umgesetzt. Ein dreistelliger Millionenbetrag für den internationalen Klima- und Umweltschutz ist einfach weg, einfach abgeräumt. Auch hier zeigen Sie echte Verantwortungslosigkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die zentrale Maßnahme der Umweltministerin gegen steigende CO 2 -Emissionen in der Empfehlung an die Bürgerinnen und Bürger darin besteht, weniger zu heizen, dann merkt man: Frau Hendricks kennt den Koalitionsvertrag ganz gut. Sie weiß: Angesichts der Vorhaben dieser Regierung in Sachen Klimaschutz muss man sich als Bürgerin ziemlich warm anziehen. Dass sich angesichts dessen noch irgendjemand in Brüssel für schärfere EU-Klimaziele oder für eine echte Reform des Emissionshandels einsetzen wird, ist wahrhaft unwahrscheinlich. Diese Koalition ist direkt schlecht für das Klima.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, Sie haben vom Technologievorsprung Deutschlands geredet. Da hätten wir ihn. Es ist aber völliger Quatsch, dass Arbeitsplätze wegfallen würden. Nein, sie entstehen erst durch die erneuerbaren Energien. Diesen Vorsprung könnten Sie tatsächlich zu einer großen Stärke Deutschlands machen. Aber im Moment räumen Sie ihn ab. Wir erinnern uns noch an die Zeit der ersten Großen Koalition. Frau Merkel und Herr Gabriel standen in roten Jacken vor Eisbergen. Damit sollte deutlich gemacht werden: Die Eisberge schmelzen. – Aber die klimapolitischen Ambitionen sind gleich mit geschmolzen. Die rote Jacke hat ausgedient. Die Klimakanzlerin von 2007 sitzt warm und trocken, und der Umweltminister von damals schützt heute lieber angeblich bedrohte Industriezweige als real bedrohte Arten. Wir stellen uns Klimapolitik wirklich anders vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist verantwortungslos, den Ausbau der Erneuerbaren zu deckeln, sodass sie gerade noch den Ausstieg aus der Atomkraft kompensieren. Wer sich die EEG-Reform anschaut, redet nur noch von einem Reförmchen. Das ist übrigens nicht meine Formulierung. Diese können Sie heute in allen Zeitungen lesen. Das Ganze ist in Wirklichkeit in erster Linie das, was Sie immer wollten, nämlich eine Bestandsgarantie für die dreckige Kohle. Diese sollen wir weiterhin fördern. Nein, eine echte Energiewende, eine echte Energierevolution sieht anders aus. Das trauen Sie sich nicht. Auch damit verscherbeln Sie die Zukunft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Gabriel, jetzt ist die Maske gefallen. Sie wollen so tun, als seien Sie der große Manager der Energiewende. Jetzt stellt sich heraus: In Wahrheit sind Sie der energischste Lobbyist der Manager. Kleine Leute zahlen bei Ihnen die Rechnung. Sie haben kaum mehr als 100 Tage gebraucht, um zum Genossen der Bosse zu werden. Sie haben kaum mehr als 100 Tage gebraucht, um solche Sätze zu sagen wie den: 40 Euro, das wird ja wohl niemandem etwas ausmachen. – Doch ich sage Ihnen: Es macht gerade den kleinen Leuten etwas aus. Dass die Industrie heute über die Ausnahmen, die Sie ihr garantiert haben, jubelt, zeigt genau, dass Ihre Energiewende nicht nur eine klimapolitische Schieflage hat, sondern auch eine soziale Schieflage. Manchmal wünscht man sich schon Peer Steinbrück zurück, der gegenüber den Industrieleuten wenigstens einmal klare Kante zeigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu passt dann auch ganz gut, dass Sie ein Machtwort sprechen, wenn es um die Frauenquote geht. Das passt perfekt ins Bild. Frau Schwesig darf jetzt nett über Leitlinien reden, weil Ihnen die Jungs von der Industrie gesagt haben, dass ihnen die Frauenquote wirklich nicht passt. Die Frauen haben lange genug gewartet, es ist endlich an der Zeit, dass die Quote kommt. Frau Schwesig, nehmen Sie bitte Ihren Mumm zusammen, und kämpfen Sie dafür! Reden Sie nicht mehr weiter darüber! Es ist genug geredet worden. Wir wollen endlich Taten sehen, wenigstens an dieser Stelle. Das kostet noch nicht einmal etwas.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe den Eindruck, dass hier so eine Art Grundkonflikt besteht. Nutzen Sie eigentlich Ihre große Mehrheit nur für den Machterhalt, oder gibt es bei Ihnen eine Perspektive? Ich meine eine Perspektive nach dem Motto: Versöhnung zwischen ökologisch verantworteter Begrenzung und unaufgebbarer Freiheit in Wohlstand. Freiheit in Wohlstand – darum würde es nämlich eigentlich gehen.

Ich gebe zu: Mir wären sogar ein paar Verbote ganz lieb.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Darin seid ihr gut!)

Wir sind Exportland Nummer drei, was die Waffenexporte angeht. Panzer nach Saudi-Arabien und Katar. Beschämend ist das, und beschämend ist auch Ihr Feigenblatt von mehr Transparenz. Ich möchte gerne, dass es hier eine tatsächliche Wende gibt und dass wir davon absehen, Waffen in Länder zu exportieren, die weit weg von Demokratie und dem sind, was wir mit Menschenrechten und Menschenwürde verbinden. Hier wäre nun wirklich ein Verbot sehr sinnvoll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich sage Ihnen auch: Wenn Sie einerseits über Energiesicherheit und über Unabhängigkeit reden, aber im gleichen Atemzug den Verkauf des größten Gasspeichers in Westeuropa ausgerechnet an die Firma Gazprom genehmigen, dann ist das unglaubwürdig, dann ist das absurd. Wenn Sie an solchen Stellen nicht glaubwürdig werden, dann ist es auch mit der Außenpolitik, die ich an dieser Stelle wirklich überzeugend fand, auf einmal sehr schwierig. Dann wird nämlich hinten wieder eingerissen, was man vorne eigentlich richtig gemacht hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe das Gefühl, Sie sind inzwischen so zufrieden auf der Regierungsbank, dass Ihnen auch Visionen abhandengekommen sind, die Vision eines modernen Staates zum Beispiel, der Wohlstand mit Anstand und Zukunft mit Schonung verbindet. Angesichts des Kräfteverhältnisses im Deutschen Bundestag haben Sie nicht nur die Möglichkeit, sondern Sie haben doch eigentlich die Pflicht und die Verantwortung, die Zukunft nicht zu verscherbeln. Stattdessen nörgeln Sie lieber ein bisschen herum, einmal am Verfassungsgericht, ein anderes Mal an Griechenland oder an denen, die wenigstens den Mund aufmachen. Ich finde, dieses Land hat etwas anderes verdient.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir in diesen Tagen und Stunden in Richtung Ukraine blicken, dann stellen wir fest, dass unsere Sorgen nicht kleiner geworden sind. Wahrscheinlich hoffen wir hier alle gemeinsam, dass die Ukraine mit dem 25. Mai und demokratischen Wahlen Stabilität erlangt, nicht mehr Spielball geopolitischer Interessen ist und ökonomisch auf die Beine kommt.

Eigentlich ist es tragisch, dass es erst so eine außenpolitische Krise brauchte, damit allen wieder klar wird, was der Wert Europas eigentlich ist, dass Europa für viele Menschen gerade am Rande der EU eine Verheißung ist und kein Zweckbündnis, das einmal nützt und einmal nicht. Dass Sie lieber Abwehrschlachten gegen stärkere CO 2 -Reduzierung, bei den Grenzwerten für die Pkw, gegen ambitionierte Klimaschutzziele und, und, und geliefert haben, zeigt, dass wir an dem Europa, das wir eigentlich wollen und für das wir eigentlich stehen, lange genug mit dieser Regierung vorbeigeredet haben. Jetzt ist Europa plötzlich als Friedensmacht gefordert. Sie merken, eine ausschließlich utilitaristische Haltung zu Europa einzunehmen, funktioniert nicht, wenn europäische Werte gefragt sind.

Wer ein Europa will, das auch machtpolitisch ernst genommen wird, der muss dafür sorgen, dass dieses Europa stark ist, statt am Ende doch noch nach der NATO zu rufen. Es ist eben keine kohärente Politik, wenn die Verteidigungsministerin die ganze Zeit mit ihrer Militärrhetorik das Krisenmanagement unterwandert, das der Außenminister diplomatisch auf europäischer Ebene betreibt. Diese Krise, Frau von der Leyen, taugt nicht zur regierungsinternen Selbstdarstellung. Bleiben Sie dabei, für ein starkes Europa und für eine friedliche Lösung zu kämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wo wir schon von europäischen Werten sprechen: Jedes Jahr fliehen Tausende Menschen nach Europa. Im Mittelmeer ertrinken andere bei dem Versuch, Sicherheit zu finden. In der letzten Nacht wurden mehr als 1 000 Menschen gerettet – zum Glück.

In Syrien tobt seit drei Jahren ein fast schon vergessener Bürgerkrieg. Ein Drittel der Bevölkerung Syriens ist auf der Flucht. Sie sollten darüber reden, was wir tun können, um diesen Menschen zu helfen. Wir sind immer noch bei gerade einmal 10 000 Kontingentflüchtlingen aus Syrien. Im Libanon ist in der vergangenen Woche der einmillionste Flüchtling aufgenommen worden. Die Türkei ist schon nah an dieser Grenze. Nur einmal zum Vergleich – weil Sie immer sagen, wir nähmen ja schon so viele auf –: Wenn wir im gleichen Verhältnis wie Libanon und Türkei Flüchtlinge aufnähmen, dann würden wir hier über 18 Millionen Flüchtlinge reden. Ich sage Ihnen: Gemessen daran sind die Anstrengungen der Bundesregierung nicht mehr als ein schlechter Witz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das ist nicht Ausdruck der internationalen Verantwortung, von der Sie immer so gern reden. Sehen Sie endlich der humanitären Verpflichtung und der Realität ins Auge. Reden Sie mit den Ländern und Kommunen.

Herr Steinmeier, was nun wirklich gar nicht geht und was Sie dringend aufklären müssen, ist, ob es wirklich Missbrauch, ob es wirklich Bestechung bei der Terminvergabe in deutschen Vertretungen gab. Falls ja, dann muss hier sehr schnell gehandelt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, mehr tun und weniger Politik antäuschen, das würde ich mir auch wünschen, wenn es um die großen Skandale geht, die wir unter den Kürzeln „NSU“ und „NSA“ kennen. 104 Tage dauert der NSU-Prozess jetzt. Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Gedenkrede vor den Hinterbliebenen rückhaltlose Aufklärung zugesagt, und Sie haben versprochen, alles zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie diese Worte ehrlich gemeint haben. Nur: Es gibt bis heute weder eine neue Sicherheitsarchitektur, noch wurden der strukturelle Rassismus und die Blindheit auf dem rechten Auge in den Sicherheitsbehörden geheilt. Wir haben hier noch eine echte Hausaufgabe, und ich verlange von Ihnen, dass Sie sie angehen und dass Sie sie nicht „wegschwurbeln“ nach dem Motto: Es wird ja hoffentlich nichts wieder passieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Sicherheitsbehörden wurschteln weiter vor sich hin. Selbst Ihr Koalitionspartner CSU macht immer wieder weiter mit Scharfmacherei. Gestern, am Internationalen Roma-Tag, haben wir gehört, in welchem Ausmaß Sinti und Roma bei uns in Europa und darüber hinaus diskriminiert, beschimpft und verfolgt werden. Angesichts dessen klingt der Satz „Wer betrügt, der fliegt“ noch zynischer, noch kälter.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der Satz hat doch damit überhaupt nichts zu tun!)

Dieser Satz hat nichts mit Menschenwürde zu tun. Hören Sie damit auf, und fangen Sie an, Rassismus zu bekämpfen, weil es um die Menschenwürde aller geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Dazu gehört es dann auch, dass man bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts eben nicht wieder nur den halben Weg geht. Willkommenskultur, das heißt doch „Ihr seid wirklich willkommen“. Wir dürfen nicht wieder Staatsbürgerschaften erster und zweiter Klasse schaffen. Deswegen sage ich Ihnen klar und deutlich: Lassen Sie den Optionszwang komplett fallen! Erst dann haben wir eine Willkommenskultur. Erst dann können wir sagen: Ja, wir leben hier zusammen. Wir tun das gern, weil wir etwas voneinander haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Im Innenausschuss mussten wir von Herrn Ziercke erfahren, dass das BKA heute so aufgestellt ist, dass die rechte Hand nicht so genau weiß, was die linke tut. Jede Woche gibt es etwas Neues, immer mehr Chaos. Frau Merkel, was haben Sie eigentlich getan, als bekannt wurde, dass Ihr Handy und die Telefonate und E-Mails von Millionen von Deutschen abgehört wurden? Sie haben heute hier dargestellt, es sei sehr kompliziert, das alles europäisch zu regeln. Was haben Sie getan? Sie haben eine platonische Brieffreundschaft mit den USA und mit Großbritannien begonnen. Wir wissen: Sie schreiben, aber niemand antwortet.

Dieser Skandal muss aufgeklärt werden. Ich bin heilfroh, dass wir jetzt den NSA-Untersuchungsausschuss haben. Ich sage Ihnen: Es ist ein harter Job, dafür zu sorgen, dass die Rechte der Bürgerinnen und Bürger auf Selbstbestimmung, auf Geheimnis, darauf, dass sie über ihre eigenen Daten verfügen können, in diesem Land wiederhergestellt werden. Deswegen ist es richtig, dass Herr Snowden aussagt. Deswegen ist es richtig, dass wir aufklären, mit aller Kraft und mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wir dürfen uns nicht zurückziehen und sagen, das sei kompliziert, sondern wir müssen unsere Energie dafür einsetzen und sagen: Ja, das wollen wir, und zwar bei aller Freundschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gestern war – das kann man nicht anders sagen – ein großer Tag für die Bürgerrechte. Allen Hardlinern, die so gerne davon reden, dass man durch die Vorratsdatenspeicherung die Sicherheit erhöhen würde, sage ich: Die Vorratsdatenspeicherung war falsch, ist falsch und bleibt falsch. Wir sind froh, dass der Europäische Gerichtshof sehr deutlich gemacht hat, dass die anlasslose Speicherung von Millionen von Daten nicht geht, dass sie nichts mit Bürgerrechten zu tun hat. Ich bin sehr froh, dass der Europäische Gerichtshof dieses Zeichen für Bürgerrechte und Freiheit kurz vor der Europawahl gesetzt hat. Heute stehe ich hier und kann sagen: Auch deswegen, wegen der Freiheit, bin ich stolz, eine Europäerin zu sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es macht wirklich keinen Sinn, jetzt nationale Alleingänge zu starten.

Meine Damen und Herren, wenn man sich den Streit um das Rentenpaket in Ihrer Koalition vor Augen führt, muss man sagen: Bei diesem Paket und auch bei dem Streit, den Sie darüber führen, vergessen Sie diejenigen, die wirklich Unterstützung brauchen. Sie vergessen die kommenden Generationen, lassen die Krankenschwester und den Zahntechniker aber brav ihre Beiträge zahlen. Sie vergessen diejenigen, die 30 Jahre lang wirklich hart gearbeitet haben und nun nicht mehr können. Sie verfahren nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Die Folgen Ihrer Politik verschieben Sie auf das Jahr 2018; dann wird es ja irgendwie weitergehen. Ich sage Ihnen: Das ist nichts, Frau Nahles, worauf man stolz sein kann. Da fehlen die Fachkräfte. Da fehlt die Unterstützung für diejenigen, die ganz draußen sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, gestern haben Sie gesagt, die Union wolle gegenüber der SPD vertragstreu sein. Mir wäre es lieber, Sie wären vertragstreu gegenüber denen, die es wirklich nötig haben: gegenüber unseren Kindern und Enkeln, gegenüber der Umwelt und dem Klima, gegenüber all denen, die wirklich etwas riskieren, hart arbeiten und Verantwortung für sich und andere übernehmen. Die alle werden nämlich nicht fragen: „Habt ihr euch in der Großen Koalition damals gut verstanden?“, sondern die werden fragen: Habt ihr eigentlich auch an uns und unsere Zukunft gedacht? Deswegen: Übernehmen Sie Verantwortung, meine Damen und Herren!

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion erhält nun Thomas Oppermann das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3288913
Wahlperiode 18
Sitzung 29
Tagesordnungspunkt Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
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