Iris GleickeSPD - Friedliche Revolution in der DDR
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserer heutigen Debatte würdigen wir die mutigen Bürgerinnen und Bürger, die sich am 7. Mai 1989 von den Staats- und Sicherheitsorganen der DDR nicht haben einschüchtern lassen. Sie haben die im Wahlgesetz der DDR verankerte öffentliche Stimmauszählung ernst genommen und für sich reklamiert. Sie haben die Wahlen als dreiste Fälschung und die DDR als eine lächerliche Diktatur entlarvt. Dazu gehörte viel Mut.
Eigentlich war es uns allen schon immer klar, dass es bei der stets fast 100-prozentigen Zustimmung der Bürger zu den Einheitslisten der Nationalen Front nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Viele – wahrscheinlich die meisten von uns – hatten Leute im Bekanntenkreis, die mindestens eine kritische, gar ablehnende Position zu diesem Staat hatten. Man wusste Bescheid.
Aber die Offenlegung dieser dreisten und unverfrorenen Fälschung führte zu großem Unmut bei weiten Teilen der Bevölkerung und brachte das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen. Die Erkenntnis, dass es trotz eines breit aufgestellten und gut gerüsteten Sicherheitsapparates möglich war, Bürgerrechte geltend zu machen, hat wie eine Initialzündung für die kommenden Ereignisse gewirkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mich an jene Tage erinnere, dann kommt mir diese Zeit schon manchmal sehr fern vor, irgendwie auch düster und ziemlich skurril. Ich bin damals auch wählen gegangen, in meiner Heimatstadt Schleusingen im Thüringer Wald. Außer dem Bürgermeister habe ich alle Kandidatinnen und Kandidaten durchgestrichen. Als damalige Mitarbeiterin beim Rat der Stadt hatte ich dann am Montag nach der Wahl ein sehr anstrengendes Gespräch mit meinem Vorgesetzten. Ich durfte bleiben. Ich hatte ja eine gültige Stimme abgegeben.
Aber das war die Lebenswirklichkeit in dieser Deutschen Demokratischen Republik, in der die allermeisten Leute ganz einfach versucht haben, anständig über die Runden zu kommen.
(Dagmar Ziegler [SPD]: So ist es!)
Wir haben versucht, das richtige Leben im falschen System zu führen. Das lässt sich nur ganz schwer beschreiben und vermitteln. Das weiß ich.
Im Alltag waren auf der einen Seite die Enge, die Erstarrung und die irrsinnigen Widersprüche. Auf der anderen Seite hatten wir unsere Freunde und Familien, sind auf Partys und in die Disco gegangen, und natürlich wussten wir: Die Stasi tanzt immer mit.
Als der Eiserne Vorhang in Ungarn durchlässig wurde, kam eine neue Ausreisebewegung aus der DDR in Gang. Für mich war es schmerzlich, festzustellen: Die da gingen, das waren gerade die jungen Familien. Das waren die Munteren, die sich kümmern wollten und die etwas anderes wollten. Das waren die Freunde und Bekannten, und sie wurden immer weniger. Es wurde mehr und mehr deutlich, dass die DDR ein Staat im Untergang war: ohne wirklichen Rückhalt, angewiesen auf die sowjetische Existenzgarantie und auf eine hermetisch verriegelte Grenze.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der die gefälschten Wahlen in der DDR miterlebt hat oder nachliest, was damals geschehen ist, der müsste den hohen Wert freier Wahlen für eine lebendige Demokratie begreifen. Ich bin neulich gefragt worden, ob ich Verständnis dafür habe, dass so viele Menschen heutzutage nicht wählen wollen oder nicht mehr wählen gehen. Ich bekenne offen: Ich habe kein Verständnis dafür, dass Leute es schick finden, nicht wählen zu gehen.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich habe kein Verständnis für renommierte Journalisten, die ein Buch über Die Machtfrage schreiben und es mit dem Untertitel Ansichten eines Nichtwählers versehen. Dieses Geschwätz könnte zu einem bösen Erwachen führen. Ich jedenfalls will keine Neonazis im Europäischen Parlament haben.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich will sie nicht im Bundestag haben und nicht im Landtag, und ich will sie in keinem einzigen Rathaus haben. Wer diejenigen wirklich ehren will, die vor 25 Jahren mutig darauf bestanden haben, eine echte Wahl zu haben, der geht wählen und der wählt eine demokratische Partei.
(Beifall im ganzen Hause)
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Erbe des 7. Mai 1989.
Schönen Dank.
(Beifall im ganzen Hause)
Steffi Lemke erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3387552 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 32 |
Tagesordnungspunkt | Friedliche Revolution in der DDR |