Rainer SpieringSPD - Berufliche Bildung
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können uns glücklich schätzen, über das Instrument der dualen Berufsausbildung zu verfügen – ein ausgesprochen komplexes System mit vielen unterschiedlichen Beteiligten. Ich möchte einige nennen: berufsbildende Schulen, Bund, Länder, Kommunen, Gewerkschaften, Kammern, viele andere Sozialpartner und vor allen Dingen viele engagierte junge Menschen.
Das besondere System unserer Berufsausbildung versetzt Jugendliche in die Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zahlen sprechen hier eine klare Sprache. Deutschland verzeichnete 2013 mit unter 8 Prozent europaweit die geringste Jugendarbeitslosenquote; aktuell sind es – die neuen Zahlen liegen vor – 5,5 Prozent.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr gut!)
Zum Vergleich: In Spanien liegt sie bei über 50 Prozent.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Frau Dr. Hein, gestatten Sie mir eine Bemerkung, da ich aus dem System komme – ich bin seit fast 30 Jahren Berufsschullehrer –: Meine Betrachtung des Systems stehtin diametralem Gegensatz zu Ihrer.
(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Schade!)
Ihre ist eine Außenbetrachtung, die über Zahlen geht, und meine stammt aus dem inneren Erleben, wie das Berufsbildungssystem funktioniert. Wenn unser System so schlecht wäre, wie Sie es darstellen, dann hätten wir die Erfolge der letzten 50 Jahre nicht verzeichnen können. Mit Ihren Darstellungen machen Sie das alles schlecht.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich möchte das an meinem Werdegang verdeutlichen: aufgewachsen in der Familie eines kleinen Handwerkers, nach der Schule Ausbildung und dann der klassische zweite Bildungsweg: Fachabitur, Studium zum Diplom-Ingenieur an der Fachhochschule und dann Studium zum Gewerbelehrer in Hamburg. Dazu sage ich ganz deutlich: ein erfülltes Berufsleben mit dem Start-up Lehre. Das ist das, was unser System ausmacht und was es wirklich stark macht.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Herr Kollege Spiering, darf die Kollegin Hein Ihnen einen Zwischenfrage stellen?
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Die war doch gerade!)
Gerne.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich schätze Ihre Kompetenz; das ist gar keine Frage.
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
Ich habe mich gefreut, dass wir jetzt einen Berufsbildner im Ausschuss haben, der das Ganze aus der Praxis sieht. Möglicherweise haben Sie mich ja missverstanden; denn ich rede nicht das System schlecht, nicht das, was in den Berufsschulen passiert. Vielmehr ist das, was den Jugendlichen zugemutet wird, schlecht. Diese Erkenntnis basiert nicht auf einer Außensicht, sondern auf dem, was mir von vielen Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern seit vielen Jahren angetragen wird. Ein Berufsschullehrer hat mir sogar gesagt: Einige Schülerinnen und Schüler bleiben länger in diesem System, als sie in der allgemeinbildenden Schule waren. – Das macht mich schon nachdenklich. Würden Sie mir recht geben, dass das ein Problem ist?
Frau Dr. Hein, ich betrachte das Problem anders. Ja, wir haben bei uns Schüler, die eine längere Zeit in diesem System verbleiben. Sie bleiben aber sicherlich längst nicht so lange, wie sie in einer allgemeinbildenden Schule waren. Ein großer Vorteil unseres Systems ist, dass es bei uns kein Hängenbleiben gibt. Ich betone „bei uns“, weil ich immer noch als Berufsschullehrer sozialisiert bin.
Wir haben am Ende der Berufsausbildung ja zwei Faktoren, die unser System von anderen Systemen maßgeblich unterscheiden: Vor den Kammern machen unsere Jungs und Mädels ihren Abschluss als Facharbeiter und Facharbeiterinnen. Damit haben sie einen eigenständigen Systemabschluss. Deswegen brauchen wir kein Hängenlassen. Zusätzlich vergeben wir – jetzt komme ich zur Durchlässigkeit des Systems – den Abschluss der berufsbildenden Schulen, der in den Sek-I- oder Sek-II-Bereich führen kann. Das heißt, wir bieten zwei Abschlussmöglichkeiten. Deswegen brauchen einige Schüler vielleicht ein bisschen länger. In unserem System wird aber niemand sieben oder acht Jahre verbleiben,
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist arrogant!)
es sei denn – Frau Dr. Hein, vielleicht haben Sie das nicht verstanden, was möglich ist –, nach der Facharbeiterausbildung wird ein Meister- oder Technikerbrief angestrebt. Dann verbleiben sie länger bei uns. Dann erhalten sie aber auch einen entsprechend hochkarätigen Abschluss.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Vielleicht ist das auch nur ein Segment, was Sie sehen!)
– Sie müssen nicht mit mir schimpfen.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön, dass Sie uns noch einmal die Welt erklären! Das ist einfach nur arrogant! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie es doch auch verstanden! – Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Aber auch das ist nur ein Ausschnitt!)
Durch meine Arbeit als Berufsschullehrer bin ich immer wieder auf zwei Eigenschaften gestoßen, die ich als Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsausbildung ansehe – die sind mir wirklich wichtig –: Sprache und Sozialverhalten. Gute schriftliche und mündliche Ausdrucksfähigkeit ist wichtig, um Arbeitsanweisungen oder Aufträge zu verstehen und umzusetzen. Und ein gutes Sozialverhalten ist notwendig, um mit Kollegen, Vorgesetzten und Kunden klarzukommen. Das sind für mich die Kernkompetenzen, um die es erst einmal geht. Diese beiden Kompetenzen werden schon im Kleinkindalter angelegt und sollten deshalb auch früh gefördert werden. Krippe und Kita können das sehr gut leisten.
Noch eine sehr persönliche Bemerkung dazu: Es kann nicht angehen, dass im Rahmen des dualen Systems die Erzieherausbildung teilweise kostenpflichtig ist. Hier besteht dringend Handlungsbedarf. Den angehenden Erzieherinnen und Erziehern muss geholfen werden, sie müssen entlastet werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die Anzahl der Betriebe, die ausbilden – die Frau Ministerin hat das gesagt –, ist zurückgegangen. Die Quote liegt bundesweit bei nur noch 21 Prozent. Gerade Kleinstunternehmen haben sich aus der Berufsausbildung partiell zurückgezogen. Lehrstellen bleiben unbesetzt – ja, das ist wahr –, und gleichzeitig stehen Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da; auch das ist wahr. Die Frage ist: Wie antwortet das System darauf? Antwortet es mit staatlicher Stringenz und versucht es, Rahmen zu setzen, die nicht einzuhalten sind, oder schafft das System Anreizsysteme? Wir sind eindeutig dafür, Anreizsysteme zu schaffen und Hilfen zu geben.
Noch eine weitere Bemerkung – auch das hat die Frau Ministerin gesagt –: Erstmalig ist die Zahl der Studenten größer als die Zahl der Auszubildenden. Unsere Form der Berufsausbildung ist ein wesentliches Merkmal des erfolgreichen Industrie- und Wirtschaftsstandorts Deutschland. Es muss unsere Aufgabe sein, möglichst viele Menschen für die greifbaren Chancen des Systems zu begeistern.
In den letzten Jahren hat sich etwas verändert: In vielen Berufen hat sich das Anforderungsprofil an die Auszubildenden mit rasanter Geschwindigkeit geändert. Der Transfer der Wissensgesellschaft, das heißt, der Weg von Neuentwicklungen hinein in die Betriebe, findet bei uns fast in einer Eins-zu-eins-Situation statt. Wir müssen zusammenführen, was zusammengehört. Wenn Studenten erkennen, dass ein Studium vielleicht nicht das Richtige für sie ist, würde ich das nicht als Scheitern darstellen. Vielmehr handelt es sich um die Erkenntnis: Ich muss bzw. ich kann einen anderen Weg gehen. – Wir haben glücklicherweise das System der dualen Berufsausbildung. Diese Möglichkeit müssen wir den Studentinnen und Studenten auch anbieten, und zwar auch in den Universitäten. Wir müssen Stellen schaffen, wo solche Studenten beraten und begleitet werden. Wir dürfen sie nicht alleinelassen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Zur Wahrheit und zu unseren Erkenntnisprozessen gehört übrigens auch: Häufig ist der gut ausgebildete Facharbeiter besser entlohnt als der gut ausgebildete Akademiker oder vor allen Dingen auch als die gut ausgebildete Akademikerin.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem das Letztere! – Gegenruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da haben Sie recht! Leider!)
Eine große Chance unseres Systems ist es, als Unternehmer in kleinen und mittelständischen Betrieben selbstständig tätig zu sein. Das ist – ich betone das – ein Wert für sich, unabhängig vom materiellen Erfolg. Ich habe das als Kind in meiner Familie erlebt. Selbstständig zu agieren und tätig zu sein, ist eine wunderbare Möglichkeit in unserem Land.
Jetzt noch etwas sehr Kritisches. In den vergangenen Jahren gab es gelegentlich von der einen oder anderen Seite negative Töne über die Ausbildungsfähigkeit der Jugendlichen. Das hat mich sehr geärgert, und es hat die Jugendlichen betroffen gemacht.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Uns auch!)
Ihre Neigung, eine Ausbildung zu beginnen, hat das bestimmt nicht gefördert. Ich finde, Betriebe sollten auch den jungen Menschen eine Chance geben, die nicht auf den ersten Blick einen pflegeleichten Eindruck machen und nicht die besten Zeugnisse mitbringen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Mit der assistierten Ausbildung gibt es die Möglichkeit, allen Beteiligten bei eventuellen Problemen zu helfen.
Wir haben einige Möglichkeiten, den Jugendlichen im System zu helfen. Eine davon sind die Jugendberufsagenturen. Die Jugendberufsagentur in Hamburg – das ist bekannt – zeigt einen Weg auf, der für den Stadtstaat Hamburg gangbar ist, weil alles aus einer Hand passiert. Ich glaube, unsere Anstrengung muss darauf hinauslaufen, dass wir dieses Beispiel, dieses Hamburger Modell, soweit es möglich ist, in die Länder und in die Regionen transferieren. Auf Grundlage dieses Hamburger Modells kann dann – die Anforderungen sind regional unterschiedlich; man muss das Modell an das System in der jeweiligen Region anpassen – den jungen Menschen passgenau geholfen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vorrangig sollen Schulabgänger in die betriebliche Ausbildung gehen. Aber für diejenigen, die keinen Ausbildungsplatz finden, müssen wir auf Zeit ausreichend Plätze im überbetrieblichen Bereich bereithalten. Ich betone das: Wir müssen diesen überbetrieblichen Bereich halten, auch wenn es Stimmen dagegen gibt. In dieses Puffersystem können wir die jungen Menschen aufnehmen. Wir können sie mithilfe der berufsbildenden Schulen, die exzellent arbeiten, begleiten und für den ersten Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt befähigen. Dort können wir ihnen das, was ihnen vielleicht noch fehlt, beibringen. Die berufsbildenden Schulen können das wirklich gut – ich weiß das; denn ich komme aus diesem Bereich – und werden das auch tun. Wir müssen ihnen aber auch die Chance dazu geben.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir wissen, dass 90 000 Jugendliche zurzeit nicht wissen, wie sie ihren Lebensweg nach der Schule gestalten. Der Datenschutz spielt bei der Lösung dieses Problems eine große Rolle. Wir müssen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten herausfinden – auch das machen die Hamburger gut vor –, wo diese jungen Menschen sind. Denn nur wenn wir wissen, wo diese jungen Menschen sind, können wir ihnen auch helfen. Wenn du nicht weißt, wo jemand ist, kannst du ihm auch nicht helfen. Deswegen müssen wir unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, systemisch dafür zu sorgen, dass wir alle jungen Menschen erfassen und auf ihrem Lebensweg begleiten können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich merke, dass ich jetzt durch meine restliche Rede hetzen muss.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ruhig Blut!)
Lassen Sie mich noch zwei Punkte anmerken, die mir ganz wichtig sind. Wir haben ein historisch gewachsenes Rollenverhältnis, das nicht mehr zu unserer Zeit passt. Wir wissen, dass viele junge Frauen keinen der exzellent bezahlten technischen Berufe ergreifen. Ich habe mit dem Betriebsratsvorsitzenden der Meyer-Werft darüber gesprochen. Nur 10 Prozent der Arbeitsplätze in einer solch toll arbeitenden Firma sind mit Frauen besetzt. Das sind angesichts unserer Bevölkerungsstruktur deutlich zu wenig.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir müssen unsere jungen Frauen, beginnend in Krippe und Kita und nachfolgend in der Schule, dafür begeistern, diese technisch anspruchsvollen Berufe zu ergreifen, damit sie ordentlich Geld verdienen, gut in diesem System leben können und vor allen Dingen ein freies, selbstbestimmtes Leben führen können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das wäre, Herr Kollege, ein vorzüglicher Schlusssatz.
Abschließend – wenn mir diese Bemerkung noch gestattet ist –: Wir werden im universitären System etwas ändern müssen. Früher ist Berufsbildung ein eigenständiges Merkmal an Universitäten gewesen; das hat sich systemisch verändert. Ich glaube, wir müssen dahin zurückkommen. Die Berufsbildung muss an den Universitäten wieder den Stellenwert bekommen, der ihr zusteht. Denn nur dann ist das System dazu in der Lage, auf wissenschaftlicher Basis Erkenntnisse zu sammeln und sie in unsere Berufsbildung einzuspeisen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung fürs Überziehen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das Wort erhält nun die Kollegin Beate Walter- Rosenheimer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3437748 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 36 |
Tagesordnungspunkt | Berufliche Bildung |