05.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 39 / Tagesordnungspunkt 4

Brigitte PothmerDIE GRÜNEN - Tarifautonomie

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Zimmer, Sie haben gerade gesagt: Schön, dass wir heute über den Mindestlohn diskutieren. Ich habe einmal nachgezählt: In den letzten Jahren haben wir hier in diesem Parlament mehr als 22-mal über den Mindestlohn diskutiert.

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Mindestens!)

Ich gestehe hier ganz offen: Manchmal hatte ich, insbesondere was die rechte Seite des Hauses angeht, das Gefühl, dass ich auf ein totes Pferd einrede.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Dass dieser Gaul jetzt doch in Trab kommt,

(Heiterkeit des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

halte ich für einen extremen gesellschaftlichen Fortschritt. Ich finde, das sollten wir deutlich sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wenn wir loslaufen, sind wir nicht mehr anzuhalten!)

Aber ich finde, wir sollten auch sagen, dass wir die Ziellinie leider noch lange nicht erreicht haben. Die Mindestlohngegner haben noch lange nicht aufgegeben. Dabei fällt mir die folgende Frage ein: Wo ist eigentlich Herr Linnemann? Herr Linnemann, der über die Presse immer Neues fordert, ist hier als Redner nicht vorgesehen.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Warten Sie einmal auf die zweite Lesung!)

Sie arbeiten weiter mit Hochdruck daran, den Mindestlohn immer weiter auszuhöhlen. Wenn Sie sich durchsetzen und nur ein Teil der vorgesehenen Ausnahmen im Gesetz steht, dann werden wir es nicht mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu tun haben. Dann werden wir es mit einem Niedriglohnsektor unterhalb des Mindestlohns zu tun haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Das hätte zur Konsequenz, dass die Niedriglöhner in Konkurrenz zu den Mindestlöhnern träten. Dann würde der Mindestlohn zu einem Konkurrenznachteil gegenüber den Niedriglöhnern. Das können wir auf gar keinen Fall wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Willi Brase [SPD] und Klaus Ernst [DIE LINKE])

Deswegen, liebe Frau Nahles, betrachten wir die Ausnahmen, die der Gesetzentwurf vorsieht, voller Skepsis. Ich nenne die Ausnahme für die unter 18-Jährigen. Sie wissen, dass ich ganz persönlich – daraus habe ich nie einen Hehl gemacht – die Sorge sehr ernst nehme, dass der Mindestlohn tatsächlich für Jugendliche den Anreiz setzen könnte, auf eine Ausbildung zu verzichten und stattdessen jobben zu gehen. Deswegen hat meine Fraktion ein sehr hochkarätig besetztes Fachgespräch dazu durchgeführt. Nach diesem Fachgespräch kann ich Ihnen eines klipp und klar sagen: Ihr Vorhaben taugt nichts.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das können Sie so nicht sagen!)

Das ist weniger als ein Placebo. Ihre Regelung trifft genau 9 000 Personen. 9 000 unter 18-Jährige sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das ist Ihre Zielgruppe. Von Ihrer Regelung betroffen sind am Ende aber 320 000 unter 18-Jährige, die neben der Schule und neben der Ausbildung jobben gehen. 9 000 Personen wollen Sie treffen, aber 320 000 treffen Sie in Wirklichkeit. Das ist ein Kollateralschaden, der sich gewaschen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn Sie wirklich etwas für junge Leute tun wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass attraktive Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und die in Ihrer Koalitionsvereinbarung vorgesehene Ausbildungsplatzgarantie endlich umsetzen.

Frau Nahles, richtig übel nehme ich Ihnen die Ausnahmen für die Langzeitarbeitslosen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie wollen uns das hier verkaufen als eine Starthilfe für Langzeitarbeitslose, um in Arbeit zu kommen. Das ist keine Starthilfe, das ist Stigmatisierung. Die Botschaft, die Sie aussenden, lautet: Die können doch nichts, die kriegt ihr billiger. Wenn das keine Stigmatisierung ist, dann weiß ich nicht, was Stigmatisierung ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen sehr genau, dass es sich bei den Langzeitarbeitslosen um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Ich bestreite überhaupt nicht, dass es darunter auch Menschen gibt, die erhebliche Leistungseinschränkungen haben. Für diese Gruppe haben wir aber ein sehr zielgenaues Instrument, nämlich die Lohnkostenzuschüsse. Statt dieses Instrument fortzuentwickeln, stigmatisieren Sie über 1 Million Menschen als nicht leistungsfähig.

Ihnen geht es im Übrigen gar nicht um die Integration von Langzeitarbeitslosen. Die Langzeitarbeitslosen sind das Bauernopfer, das die SPD der Union in Sachen Mindestlohn geben musste.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])

Das ist der Skalp, den die Union gefordert hat, um zu demonstrieren, dass die Sozialdemokratisierung der Union noch nicht vollends abgeschlossen ist. Ich sage Ihnen aber: Hier geht es ausdrücklich nicht um politische Geländegewinne in der Koalition; hier geht es um den Schutz vor Lohndumping, und zwar für alle Beschäftigten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja! Ganz genau!)

Noch eine Bemerkung: Dieses Gesetz heißt ja Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie. Von dieser Ausnahme bei den Langzeitarbeitslosen profitieren übrigens auch nur die Betriebe, die keinen Tarifvertrag haben, weil die, die einen Tarifvertrag haben, diese Ausnahme nicht machen können. So weit zur Stärkung der Tarifautonomie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir werden in den Beratungen noch eine Menge Themen ansprechen müssen. Auf die Konstruktion der Mindestlohnkommission ist hingewiesen worden, auf die Evaluierung, die erst 2020 beginnen soll, ebenfalls. Auf die geplanten Ausnahmen und ihre Folgen müssen wir ebenso eingehen wie auf das Einfrieren des Mindestlohns bis 2018. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet, dass die Politik bis 2018 den Mindestlohn festlegt, also genau das passiert, wogegen Sie sich hier immer wieder zur Wehr setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann müssen wir auch einmal darüber reden, ob diejenigen, die nicht vom Mindestlohn profitieren, eigentlich überhaupt geschützt werden –

Frau Kollegin.

– ich komme zum Schluss – und ob deren Löhne nicht die Grenze der Sittenwidrigkeit unterschreiten. Das können Sie doch nicht ernsthaft wollen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das alles sind keine Petitessen. Es geht um mehr als 5 Millionen Menschen hier in Deutschland. Es geht um die Bekämpfung des Niedriglohnsektors. Ich finde, das ist des Schweißes der Edlen wert.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3488473
Wahlperiode 18
Sitzung 39
Tagesordnungspunkt Tarifautonomie
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