05.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 39 / Tagesordnungspunkt 10

Peter WeißCDU/CSU - Rente aus Beschäftigung in einem Ghetto

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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Ghettorente einen wichtigen Beitrag geleistet, indem den Menschen, die von der Nazidiktatur in Ghettos zusammengepfercht wurden und die dort selbstverständlich um ihren Lebensunterhalt gekämpft und dafür gearbeitet haben, erstmalig ein eigener Rentenanspruch zuerkannt wurde. Es war 2002 eine wirklich großartige Leistung des deutschen Parlaments, dies endlich zu beschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Mit dieser Entscheidung von 2002 haben wir dafür gesorgt, dass denen, denen die Nazis durch die Verbringung in Ghettos ihre menschliche Würde rauben wollten und geraubt haben, mit dem eigenen Rentenanspruch für ihre in den Ghettos geleistete Arbeit ein Stück ihrer Würde zurückgegeben wurde. Bei der Ghettorente geht es in Wahrheit nicht nur um eine finanzielle Leistung; es geht zuallererst um die Achtung der Würde des Menschen und um die Achtung der Würde der Arbeit. Das war das Entscheidende bei dem Ghettorentengesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nun war es leider so, dass viele Männer und Frauen, die nach der Intention des Gesetzgebers einen Anspruch auf Ghettorente hatten, erfahren mussten, dass aufgrund hoher bürokratischer Hürden und einer ziemlich problematischen Auslegung durch die Rentenversicherung ihre Anträge abgelehnt wurden. Als nun das Bundessozialgericht hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes neues Recht gesprochen hatte, konnte man eine solche Ghettorente aber nur vier Jahre rückwirkend beantragen.

Mit der heutigen Gesetzesnovelle sorgen wir für Klarheit. Jeder und jede, der oder die unter den schrecklichen Zuständen in einem Ghetto leben und arbeiten musste, kann rückwirkend ab dem Jahr 1997 Rente beantragen. Damit sorgen wir dafür, dass alle, die Anspruch auf eine Ghettorente haben, gleichbehandelt werden. Das, was 2002 die eigentliche Absicht des Gesetzgebers war, wird im Zuge dieser Novellierung deutlich und klar ins Gesetz geschrieben. Damit sorgen wir hoffentlich ein Stück weit für mehr Gerechtigkeit bei der Ghettorente.

(Beifall im ganzen Hause)

Wie die Frau Staatssekretärin schon dargestellt hat, kann jeder für sich berechnen lassen, ob er die bisherige, vier Jahre rückwirkend gewährte Rente beziehen will oder ob er sie neu berechnen lassen will und sich ab dem Jahr 1997 ausbezahlen lassen will. Wir sorgen also für Wahlfreiheit. Jeder Betroffene kann selbst für sich entscheiden.

Zum Zweiten unterliegt derjenige, der es bislang vielleicht versäumt hat, einen Antrag zu stellen, dann, wenn er erstmalig einen Antrag stellt, keiner Verfallsfrist. Auch das ist wichtig.

Zum Dritten kann auch die Witwe oder der Witwer eines mittlerweile verstorbenen Ehepartners, der diese Ghettorente hätte beantragen können und Anspruch auf sie gehabt hätte, nachträglich für sich diese Witwenrente beantragen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir denen, die als Hinterbliebene von Anspruchsberechtigten heute hochbetagt unter uns leben, die Möglichkeit eröffnen, die ihnen und ihrem Ehepartner zustehende Rente in Form der Witwenrente zu beziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Recht ist darauf hingewiesen worden – die Opposition will ja überall ein Haar in der Suppe finden –, dass wir in Bezug auf Polen eine Sondersituation haben, weil es ein deutsch-polnisches Sozialversicherungsabkommen gibt.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat nichts mit „Haar in der Suppe finden wollen“ zu tun, sondern ist ganz einfach im Interesse der Menschen!)

Darin ist geregelt – was ja auch nicht dumm, sondern eigentlich gescheit ist –, dass Rentenansprüche, die ein polnischer Staatsbürger gegenüber der Deutschen Rentenversicherung hat, durch die polnische Sozialversicherung eingelöst werden. Wenn wir hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz beschließen, hat das aufgrund dieses Sozialversicherungsabkommens nicht unmittelbar Auswirkungen für jemanden in Polen. Aber natürlich wünschen wir uns, dass jemand, der in Polen lebt, in Polen, wenn auch nach polnischem Recht, eine eigene Rente für im Ghetto geleistete Arbeit bekommt. Dass er diese vorgesehene Ghettorente bekommt, die wir ihm zugestehen, ist unser Wille.

Insofern begrüße ich es, Frau Bundesministerin Nahles, dass die Bundesregierung bereits, bevor wir heute dieses Gesetz beschließen, also sozusagen schon in vorauseilendem Gehorsam, mit der polnischen Regierung Gespräche aufgenommen hat, wie wir unter den Bedingungen des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens dafür sorgen können, dass möglichst auch in Polen lebende ehemalige Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter ihre Rentenansprüche einlösen können. Dafür ein herzliches Dankeschön an die Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Also doch kein Haar in der Suppe!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns heute Lebende ist ja überhaupt nicht vorstellbar, was es bedeutete, zusammengepfercht und vom normalen Leben ausgeschlossen in einem Ghetto unter der Nazidiktatur zu leben und zu arbeiten. Eine Betroffene aus Ungarn hat mir in meiner Eigenschaft als Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks – nicht in meiner Eigenschaft als Abgeordneter – einen Brief geschrieben, nachdem sie zu einem von deutscher Seite mitfinanzierten Erholungsaufenthalt eingeladen worden war. Sie schreibt Folgendes:

Ich finde es menschlich bewegend und großartig, dass diejenigen, denen so unendliches Leid geschehen ist, heute – hochbetagt – zu einer solchen Haltung, zu einer solchen Aussage fähig sind.

(Beifall im ganzen Hause)

Deshalb freue ich mich, wenn wir heute – hoffentlich einstimmig – die Änderung des Ghettorentengesetzes beschließen und solch großartigen Menschen, die Schreckliches und Schlimmes in ihrem Leben erfahren haben, durch die Ghettorente ein Stück ihrer Würde zurückgeben können.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/ Die Grünen.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat jetzt zwölf Jahre gedauert, bis der Deutsche Bundestag es schafft, den damals einstimmigen Beschluss rechtlich so klarzustellen, dass dem Willen, den der Deutsche Bundestag vor zwölf Jahren geäußert hat, tatsächlich auch Geltung verschafft wird. Die Phase dazwischen war durchaus beschämend. Das ist beschrieben worden. Der Wille wurde in der Verwaltung nicht umgesetzt. Deshalb hat es bis zum Sozialgerichtsurteil von 2009 gedauert, bis rechtliche Klarstellung erfolgt ist. Dann wurden halt nur rückwirkend ab 2005 die Renten gezahlt, im Gegensatz zu dem Willen des Gesetzgebers, dass das ab 1997 passieren sollte.

Es ist gut, dass wir so einmütig sind. Aber für diese beschämende Phase können wir uns bei den Betroffenen – auch wenn es nicht unser Wunsch war – eigentlich nur entschuldigen. Von ihnen sind in der Zwischenzeit ja auch schon viele gestorben; das muss man an der Stelle ja auch noch einmal sagen. Das ist mehr als bitter. Das ist eine bewegende Geschichte.

Ich will noch einmal kurz beschreiben, was in den letzten vier Jahren passiert ist, denn es war für mich und, wie ich glaube, auch für alle Beteiligten ein ganz besonderer Prozess – nicht nur wegen des Themas, sondern weil wir da einen Parlamentarismus gelebt haben, der in meinen Augen vorbildlich ist. Wir haben nämlich gemeinsam darum gerungen, wie wir eine Lösung hinkriegen, damit die Menschen ab 1997 ihre Renten bekommen.

Ich möchte mich an der Stelle auch noch einmal bei allen seinerzeit beteiligten Berichterstattern bedanken: bei Karl Schiewerling, bei Peter Weiß, bei Volker Beck aus meiner Fraktion, bei Ulla Jelpke und Matthias Birkwald von den Linken, aber auch bei Heinrich Kolb von der FDP und last, not least bei Toni Schaaf von der SPD, der wesentlich mit dazu beigetragen hat, dass wir das Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, und dabei immer eine treibende Kraft war.

(Beifall im ganzen Hause)

Es war eine schwierige Geschichte; denn es ist rentenrechtlich so, dass man dann, wenn man später Rente bezieht, einen Zuschlag bekommt. Die Menschen, die ab 2005 ihre Rente bekommen haben, haben eine höhere Rente bekommen als dann, wenn sie sie schon ab 1997 bekommen hätten.

Bis es dazu kam, dass heute der Gesetzentwurf auf dem Tisch liegt, gab es vielfältige Überlegungen. Es wurde die Möglichkeit erörtert, dass die Menschen eine Nachzahlung bekommen, dafür aber für die Zukunft eine geringere Rente erhalten. Da haben wir gefragt: Kann man das den Menschen wirklich zumuten, dass man sagt, ihr kriegt eine geringere Rente? Dann haben wir über steuerfinanzierte Entschädigungslösungen nachgedacht. Das ist alles sehr kompliziert, aber alles durchaus machbar.

Es gab einen Moment, in dem der Prozess fast gestoppt worden wäre, weil gesagt worden ist: Durch die Rentenaufschläge wird doch ausgeglichen, dass die Menschen erst später Rente bekommen haben. Wir konnten aber nachweisen, dass dem nicht so ist. Es ist vielmehr so, dass Verluste in der Größenordnung eines vierstelligen Euro-Betrages entstehen. Das sind keine Beträge, mit denen man die Schuld wieder begleichen kann, aber sie sind mehr als symbolisch und für die Betroffenen teilweise durchaus viel Geld. Es ist gut, dass wir das hinbekommen haben, dass die Menschen dieses Geld nun auch ausgezahlt bekommen können.

Wir hatten dann eine Anhörung, in der gesagt worden ist, beide Wege – Entschädigungen und Rentennachzahlungen – sind prinzipiell möglich; beide sind schwierig. Es gab aber eine klare Äußerung von den Betroffenen und von den Betroffenenverbänden; sie haben gesagt: Wir wollen eine rentenrechtliche Lösung, wir wollen keine Entschädigung. Wir wollen kein Almosen, sondern wir haben gearbeitet und möchten dafür unsere wohlverdiente Rente haben.

Wir waren eigentlich vor einem Jahr fast schon so weit, wie wir heute sind. Leider ist es uns nicht schon vor einem Jahr gelungen, das Gesetz zu verabschieden. Es gab Widerstände. Ich weiß nach wie vor nicht, von wem und mit welchen Gründen. Ich kann es nicht wirklich nachvollziehen. An der Stelle muss ich es einfach sagen: Ich finde, die Leute, die dafür verantwortlich sind, dass wir das Gesetz nicht schon vor einem Jahr verabschiedet haben, sollten sich etwas schämen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Denn in der Zwischenzeit sind wieder mehr Menschen gestorben. Im politischen Prozess ist ein Jahr wenig, für Menschen, die 85 Jahre alt sind, die 90 Jahre alt sind, ist ein Jahr sehr viel. Umso besser ist es – dafür möchte ich der Bundesregierung und allen Beteiligten danken –, dass diese Widerstände überwunden worden sind, wir den Gesetzentwurf sehr zügig beraten haben und dass wir dieses Gesetz heute einstimmig verabschieden können.

Ich möchte mit einem Zitat aus der Anhörung enden. Uri Chanoch, einer der Überlebenden, hat gesagt:

Das schaffen wir heute – viel zu spät, aber wir schaffen es und senden damit, wie ich finde, ein gutes Signal an die Betroffenen.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3490854
Wahlperiode 18
Sitzung 39
Tagesordnungspunkt Rente aus Beschäftigung in einem Ghetto
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