Matthäus StreblCDU/CSU - Rente aus Beschäftigung in einem Ghetto
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung die Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Dieses Gesetz betrifft einige Zehntausend Menschen und ist in mehrfacher Hinsicht von hoher Symbolkraft. Es ist ein deutlicher Hinweis auf die schwärzesten Jahre deutscher Geschichte und der in deutschem Namen begangenen Verbrechen. Die heutige Debatte zeigt zugleich aber auch, dass wir uns als Deutscher Bundestag unserer Verantwortung stellen – wenn auch mit großer Verspätung.
Rund 70 Jahre sind nunmehr vergangen – das entspricht zwei Generationen –, seitdem das nationalsozialistische System zusammengebrochen ist. Zur menschenverachtenden Politik der damaligen Zeit gehörte es, Menschen in Ghettos zu sperren, weil sie anders waren, als die Führung es sich vorstellte. Nicht nur in den Konzentrationslagern, sondern auch in diesen Ghettos kämpften die Menschen – vornehmlich jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger – um ihr Leben.
Historiker befassen sich damit, und die Geschehnisse von damals sind heute zumeist Gegenstand von Gedenkveranstaltungen. Es zeigt sich, dass sie zwar untrennbar zu unserer Geschichte gehören, aber keineswegs Vergangenheit sind – bewältigte Vergangenheit schon gar nicht.
Wir können damit erlittenes Unrecht nicht wiedergutmachen. Mit dem Gesetz zur Ghettorente wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Folgen dieses Unrechts wenigstens teilweise zu mildern.
Lassen Sie mich in wenigen Worten den Weg nachzeichnen, der zu der heutigen Beschlussfassung geführt hat:
1997 hatte eine ehemalige Näherin aus dem Ghetto Lodz auf Zahlung ihrer deutschen Rente geklagt und auch gewonnen. Daraus entstand 2002 das Gesetz zur sogenannten Ghettorente. Alle ehemaligen Ghettoinsassen, die in einem Ghetto gearbeitet hatten, konnten nun Rentenanträge stellen.
Rund 70 000 Betroffene machten davon Gebrauch, doch fast alle Anträge wurden leider abgelehnt. Die Begründung damals lautete: Die Arbeit im Ghetto war nicht freiwillig, sondern Zwangsarbeit, und Zwangsarbeit war aus den Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zu entschädigen. Viele Sozialrechtler gaben dem damaligen Zeitgeist entsprechend den Rententrägern recht.
Es stellte sich allerdings schon bald, wie der Historiker Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte formulierte, die Frage nach dem Unterschied zwischen einem KZ-Häftling, der einem Kommando unterstellt ist, der durchgezählt wird, der eingeordnet wird, und einem Ghettoinsassen, der sich selbst bemühen muss, eine Arbeit zu bekommen. Man konnte sich nicht vorstellen, dass Arbeit in einem Ghetto freiwillig und ohne Zwang geleistet werden konnte. 2009 hat es dann eine Änderung in der Beurteilung gegeben, und im Juni 2009 hat das Bundessozialgericht dementsprechend entschieden.
Unter den gegebenen Umständen reicht es seitdem zur Bestätigung der Freiwilligkeit aus, wenn der Antragsteller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden musste. Alle abgelehnten Bescheide werden seither neu bearbeitet. Exakt 23 818 von 26 186 überprüften und abgelehnten Rentenanträgen wurden nunmehr bewilligt.
Allerdings gab es weiterhin ein als Unrecht empfundenes Problem: Die Renten wurden nicht rückwirkend ab dem Jahr 1997, sondern wegen der im allgemeinen Sozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal vier Jahren erst ab Januar 2005 gezahlt. Zum Ausgleich für diesen späteren Rentenbeginn erhielten die Betroffenen Rentenzuschläge in Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Wegen des verschobenen Rentenbeginns ergaben sich also Zuschläge bei nachträglich bewilligten Ghettorenten von rund 45 Prozent.
Trotz dieser begrüßenswerten finanziellen Regelungen wurde der spätere Rentenbeginn von den Rentenberechtigten, ungeachtet der hohen Rentenzuschläge, als ungerecht empfunden. Das heute zur Verabschiedung stehende Gesetz ermöglicht es, dass künftig auch die nachträglich nur für vier Jahre rückwirkend bewilligten Renten auf Antrag bereits ab Juli 1997 ausgezahlt werden können – in diesem Fall jedoch ohne die entsprechenden Rentenzuschläge.
Um weitere Ungerechtigkeiten zu vermeiden, können auch diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen einen Antrag auf Ghettorente nicht innerhalb der bisher geltenden Antragsfrist 30. Juni 2003 gestellt haben, ihre Rente rückwirkend ab 1997 erhalten, vorausgesetzt, die Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Uns allen in diesem Hohen Hause ist bewusst, dass die Berechtigten überwiegend hochbetagt sind. Wir stellen daher sicher, dass sie selbst unmittelbar nach Erhalt ihres Rentenbescheides über ihre Rentennachzahlung verfügen können.
Im Vertrag der Großen Koalition haben CDU/CSU und SPD festgelegt – ich zitiere –:
Wir wollen daher, dass den berechtigten Interessen der Holocaustüberlebenden mit einer angemessenen Entschädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit Rechnung getragen wird.
Diese Koalition ist nicht einmal ein halbes Jahr im Amt. Sie erfüllt mit dem vorliegenden Gesetz zwar auch eine finanzielle Verpflichtung, mehr noch aber ein moralisches Gebot. Alle Fraktionen dieses Hohen Hauses tragen dieses Gesetz mit. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Gesetz heute geschlossen verabschieden werden.
Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall im ganzen Hause)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3490864 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 39 |
Tagesordnungspunkt | Rente aus Beschäftigung in einem Ghetto |