Thomas OppermannSPD - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Bundestagspräsidenten dankbar, dass er Gregor Gysi daran erinnert hat, dass wir bei Debatten über den Bundespräsidenten in diesem Parlament korrekt zitieren müssen. Das erscheint wie ein leichtes Vergehen, ein Kavaliersdelikt, hat aber enorme Konsequenzen; denn wenn die erste Reihe falsch zitiert, dann fühlen sich die zweite und die dritte Reihe ermuntert, so richtig zuzuschlagen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Das, Herr Gysi, hat ein Kollege von Ihnen aus dem brandenburgischen Landtag getan. Wir konnten heute in der Zeitung lesen, was er bei Facebook gepostet hat. Er schreibt zu Joachim Gauck:
Eine so unglaubliche Schmähkritik am Bundespräsidenten habe ich noch nie gelesen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN)
Nun will ich Ihnen sagen, Kollegen von der Linkspartei, warum wir Sozialdemokraten sensibel reagieren, wenn demokratisch gewählte Staatsoberhäupter oder Staatspräsidenten mit einer solchen Schmähkritik überzogen werden; denn das war die Strategie der Nazis in der Weimarer Republik gegen Reichspräsident Ebert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN – Katja Kipping [DIE LINKE]: Also, jetzt reicht es!)
Nun ist ganz klar, dass ich Sie damit nicht in Verbindung bringen will.
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Nazivergleiche sind echt nicht angemessen!)
So etwas würde Gregor Gysi selber auch niemals tun, aber durch Ihre demagogische Verdrehung der Äußerungen des Bundespräsidenten legen Sie die Grundlage für solche unglaublichen Entgleisungen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katja Kipping [DIE LINKE]: Mit Verlaub, das nehmen Sie zurück!)
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung ist jetzt seit sechs Monaten im Amt. Ich finde, was die Koalition in dieser Zeit umgesetzt hat, kann sich sehen lassen. In der letzten Sitzungswoche war es das Rentenpaket, in dieser Woche ist es die Reform des Gesetzes über die erneuerbaren Energien, und in der nächsten Woche kommt der gesetzliche Mindestlohn. Wir haben in den ersten sechs Monaten viel geleistet, was uns voranbringt. Bei dieser Politik geht es immer um eine klare Leitlinie. Es geht darum, alles dafür zu tun, dass wir unsere Wirtschaftskraft erhalten, unseren Wohlstand sichern und gleichzeitig dafür sorgen, dass alle Menschen an diesem Wohlstand teilhaben können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich denke, wir haben auch bei schwierigen und kontroversen Themen deutlich gemacht, dass wir vernünftig zusammenarbeiten können. CDU, CSU und SPD sind nicht auf die Welt gekommen, um eine Große Koalition zu bilden.
(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Ernsthaft?)
Wir sind auch keine Wunschpartner, aber wir sind trotzdem in der Lage, den Willen und die Fähigkeit zum Kompromiss zu zeigen. Für diese Zusammenarbeit, mit der wir schon eine ganze Menge erreicht haben, möchte ich mich bei Volker Kauder, bei Gerda Hasselfeldt und bei den Kollegen der Unionsfraktion ganz herzlich bedanken.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Eine ganze Menge erreicht haben wir auch beim Bundeshaushalt 2014. Wir haben gezeigt, dass wir einen strukturell ausgeglichenen Haushalt vorlegen können, und wir haben es geschafft, eine Deckungslücke von 3 Milliarden Euro ohne weitere Schulden zu schließen. Das ist auch ein starkes Signal dafür, dass wir es 2015 schaffen werden, einen voll ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Denn eine Haushaltspolitik zulasten der jungen Generation darf es in Zukunft nicht mehr geben.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Morgen wird der Europäische Rat eine Entscheidung über die Spitze der Europäischen Kommission vorbereiten. Es ist gut, dass sich jetzt eine Lösung abzeichnet, die das Ergebnis der Europawahl widerspiegelt. Weil die extremen Ränder des Europäischen Parlamentes stärker geworden sind, brauchen wir jetzt eine starke proeuropäische Koalition im Zentrum. Niemand will und niemand kann wollen, dass Großbritannien die EU verlässt. Aber es kann auch kein Recht auf ein Veto gegen erfolgreiche Spitzenkandidaten geben.
Dass sich das Europäische Parlament ungefragt zu Wort gemeldet hat, als der EVP-Spitzenkandidat demontiert zu werden drohte, das war nicht anmaßend, sondern völlig in Ordnung. Denn wenn es am Ende ohne das Parlament nicht geht, dann muss das Parlament auch schon am Anfang mitreden können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das Parlament hat die Gunst der Stunde genutzt, und deshalb ist es gestärkt aus diesem Konflikt hervorgegangen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Egal ob Gesetzgebung oder Haushaltsaufstellung: Dieses Parlament hat sich seine Zuständigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten Schritt für Schritt hart erkämpft. Was jetzt noch fehlt, ist ein Recht zur Gesetzesinitiative und ein Recht, den Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. Das muss in Zukunft kommen. Ich bin ganz fest davon überzeugt: Fortschritte bei der Vertiefung der Europäischen Union werden nur gelingen, wenn das direkt durch die Unionsbürger legitimierte Parlament in Zukunft weiter gestärkt wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, 10 Millionen Wähler haben in Europa rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien gewählt. Das darf uns nicht kaltlassen. Deshalb darf es bei dem bevorstehenden EU-Gipfel nicht nur um die Person des Präsidenten der EU-Kommission gehen; vielmehr brauchen wir auch eine Reformagenda mit klaren Maßnahmen für die nächsten fünf Jahre, ein Programm, durch das die Wirtschaftskrise überwunden wird und durch das endlich die horrende Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union beseitigt wird. Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass einer ganzen Generation in Europa die Zukunft verstellt wird.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Europa kann nur funktionieren, wenn es wirtschaftlich erfolgreich ist; darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass Italien, Spanien und Frankreich auf einen Wachstumskurs zurückkehren. Das ist diesen Ländern bisher nicht gelungen. In diesen Ländern ist das Haushaltsdefizit nach wie vor hoch, und es fehlt nach wie vor an durchgreifenden Reformen, wie sie zum Beispiel in Deutschland unter Bundeskanzler Gerhard Schröder auf den Weg gebracht worden sind. Die schlechte wirtschaftliche Lage führt zu politischer Instabilität.
Dass nach dem Europawahlergebnis nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass die nächste französische Präsidentin Marine Le Pen heißt – in zwei Jahren könnte es so weit sein –, halte ich für eine politische Katastrophe.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da muss man nach den Ursachen suchen!)
Wie soll die deutsch-französische Achse im Zentrum der Europäischen Union mit einer rechtsextremen Präsidentin funktionieren? Das kann sich kaum einer vorstellen. Deshalb muss uns sehr daran gelegen sein, dass sich Frankreich und Italien wirtschaftlich wieder erholen.
Wir sind uns darüber einig, dass das auf der Grundlage des Stabilitätspaktes geschehen muss. Dieser Stabilitätspakt ist nämlich nicht nur ein Stabilitätspakt, sondern auch ein Wachstumspakt. Er wurde 2005 so angepasst, dass den reformwilligen Ländern geholfen werden kann. Schon deshalb wollen und brauchen wir keine Änderungen an diesem Stabilitätspakt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Der Pakt enthält alle notwendige Flexibilität, um mit einer wachstumsfreundlichen Konsolidierung zugleich den Haushalt sanieren und Wachstum fördern zu können.
Genau diese Möglichkeiten sollen jetzt besser ausgeschöpft werden. Die Grundidee dahinter ist so einfach wie richtig: Wir gewähren mehr Zeit zum Abbau der Defizite, aber Zug um Zug gegen verbindliche Strukturreformen. Diese Reformen müssen dann auch wirklich kommen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Die Zeit kommt von selbst, aber die Reformen kommen nicht von selbst. Solche Strukturreformen erfordern enorme politische Anstrengungen. Wir Sozialdemokraten wissen, wovon wir reden.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die haben euch fast umgebracht!)
Frankreich ist unser wichtigster Wirtschafts- und Handelspartner. Italien ist ähnlich wichtig für uns. Wenn es diesen beiden Ländern auf Dauer schlecht ginge, dann würde das auch an uns nicht spurlos vorübergehen. Deshalb liegt es in unserem eigenen Interesse, alles dafür zu tun, dass diese beiden Länder wieder auf die Beine kommen. Europa muss wieder gemeinsam wachsen. Das ist die Linie dieser Bundesregierung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auch nach der erfolgreichen Wahl ist eine friedliche, stabile Entwicklung in der Ukraine immer noch nicht gewährleistet. Ich danke dem Außenminister und der Bundeskanzlerin, dass sie unermüdlich aktiv sind, um den Waffenstillstand, die Waffenruhe in der Ukraine aufrechtzuerhalten und um eine friedliche Entwicklung in diesem Land zu gewährleisten. Das ist eine Außenpolitik, in der sich die ganzen Koalitionsfraktionen uneingeschränkt wiederfinden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Im Nahen Osten ist jetzt eine Terrorgruppe entstanden, vor der sich die ganze Welt fürchtet. Die Region zwischen Syrien und Irak droht zu einem Schlachtfeld von Gotteskriegern und religiösen Fanatikern zu werden, wie es Frank-Walter Steinmeier formuliert hat. Der große Zulauf zur islamistischen Bewegung ISIS ist die Folge einer verfehlten Innenpolitik der Regierung Maliki. Sie hat sunnitische Minderheiten ausgegrenzt und diskriminiert. Dann kam der Syrien-Krieg noch hinzu als ein weiterer Katalysator. Aber der Zulauf ist auch eine fatale langfristige Folge des völlig verfehlten Irakkriegs von 2003 und der anschließenden Politik der Bush-Administration.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])
Der US-Einmarsch in 2003 hat den Menschen im Irak keinen Frieden gebracht, sondern er hat eine Region langfristig destabilisiert. Das sind die Konsequenzen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir haben uns damals zu Recht gegen die Teilnahme am Irakkrieg entschieden, und auch heute gibt es für Deutschland im Irak keine militärische Option.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich danke der Bundeskanzlerin, dass sie das klargestellt hat; unsere Aufgabe ist es, stabile politische Lösungen zu fördern.
Verantwortung sollten wir dort übernehmen, wo wir sehr konkret gefragt sind, und das betrifft das Engagement für die vom Bürgerkrieg betroffenen Menschen. Immer mehr Menschen kommen nach Deutschland. Sie wollen hier arbeiten und suchen Schutz vor Krieg und politischer Verfolgung. Im letzten Jahr gab es in Deutschland 120 000 Asylbewerber. In diesem Jahr werden es vielleicht bis zu 200 000. Hinzu kommen wie im letzten Jahr wahrscheinlich 400 000 Einwanderer. Weltweit haben wir im Augenblick die höchsten Flüchtlingszahlen. Der UNHCR hat auch festgestellt, dass in Deutschland die meisten Asylanträge gestellt werden.
(Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])
In Europa nimmt Deutschland auch die meisten Flüchtlinge aus Syrien auf.
Das ist überhaupt kein Grund, uns stolz auf die Schulter zu klopfen. Aber was wir jetzt auf gar keinen Fall gebrauchen können, ist eine parteipolitische Polarisierung in der Flüchtlingsfrage, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Gerade mit Blick auf die wieder ansteigende Zahl von Gewalttaten, von rechtsextremistischen Straftaten gegen Flüchtlinge haben wir alle miteinander eine große Verantwortung dafür, dass die Flüchtlinge in Deutschland auf- und angenommen werden. Wir müssen die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Akzeptanz von Asylbewerbern und Flüchtlingen schaffen, zum Beispiel indem wir ihnen angemessene Unterkünfte verschaffen oder für die rasche Erteilung einer Arbeitserlaubnis sorgen. Aber vor allem gehört zu einer verantwortlichen Flüchtlingspolitik, dass wir uns nicht überall gleichmäßig anstrengen, sondern dass wir dort am stärksten helfen, wo die Not am größten ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deshalb danke ich der Innenministerkonferenz, dass Bund und Länder ihr Aufnahmeprogramm für Syrer, vor allem im Bereich des Familiennachzuges, noch einmal deutlich ausgeweitet haben; denn in Syrien herrscht die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit.
Das allerdings ist auf dem Westbalkan anders, trotz der teilweisen Diskriminierung mancher Bevölkerungsgruppen, die es dort zweifellos gibt. Mit Serbien laufen EU-Beitrittsverhandlungen. Mazedonien ist ein Land mit Kandidatenstatus. Mit Bosnien-Herzegowina gibt es ein Assoziierungsabkommen. In diesen Ländern haben wir andere Möglichkeiten, die Menschenrechte durchzusetzen, als den Betroffenen ein aussichtsloses Asylverfahren in Deutschland anzubieten, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Es kann doch nicht sein, dass wir die Menschenrechtsprobleme bei EU-Anwärtern mithilfe des deutschen Asylrechtes lösen. Da müssen wir anders eingreifen. Deshalb ist es sinnvoll, wenn wir Asylbewerbern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihren Heimatländern keiner politischen Verfolgung ausgesetzt sind, schneller eine Antwort auf ihren Asylantrag geben können. Deshalb appelliere ich auch an die Grünen: Lassen Sie uns gemeinsam für Akzeptanz für Flüchtlinge werben, um ihnen schneller die Möglichkeit zu geben, in Deutschland zu arbeiten.
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hä?)
Aber lassen Sie uns auch gemeinsam Prioritäten setzen,
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sollten Sie besser an die CSU und Ihren Koalitionspartner appellieren!)
um bei denjenigen, deren Asylanträge aussichtslos sind, keine falschen Hoffnungen zu wecken.
Meine Damen und Herren, zu einer erfolgreichen Integrationspolitik gehört auch ein klares Signal an die Menschen, die mit zwei Staatsbürgerschaften in Deutschland leben. Wir wollen junge Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, nicht mehr zwingen, sich als Deutsche gegen die Heimat und die Herkunft ihrer Eltern und Großeltern zu wenden.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU])
Deshalb ist die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft ein großer Schritt in der Integrationspolitik. Er ist längst überfällig; denn Deutschland braucht ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht. Für die doppelte Staatsbürgerschaft gibt es inzwischen eine breite gesellschaftliche Zustimmung. Deshalb appelliere ich auch hier an die Grünen: Lassen Sie uns diesen bedeutenden Schritt in der Einwanderungs- und Integrationspolitik gemeinsam gehen.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat vereinbart, dass der Bund 2015 die Finanzierung des BAföG vollständig übernehmen wird und die Länder so mehr Geld für Investitionen in Bildung haben. Das ist eine wichtige Entscheidung; denn wir alle teilen die Grundüberzeugung: Bildungschancen dürfen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das war die Überzeugung von Willy Brandt, als er 1971 das Bundesausbildungsförderungsgesetz einführte. Dieser Satz ist auch heute noch das Fundament unserer Bildungspolitik. Willy Brandt reagierte damals auf die deutsche Bildungskatastrophe, vor der der Pädagoge Georg Picht Ende der 60er-Jahre warnte. Pichts Analyse war: zu wenig Abiturienten, zu wenig Studenten und kaum Aufstiegschancen im dreigliedrigen Schulsystem. Er prophezeite damals:
Meine Damen und Herren, das BAföG war eine wegweisende sozialpolitische Antwort auf Pichts alarmierenden Befund. Heute haben wir weitaus mehr Studienanfänger als zur damaligen Zeit. Insofern hat das BAföG etwas bewegt. Aber immer noch gilt: Der Bildungserfolg ist in Deutschland wie in keinem anderen industrialisierten Land dieser Welt abhängig von der sozialen Herkunft der jungen Menschen. Die Chance, dass Akademikerkinder ein Abiturzeugnis erhalten, ist in vielen Ländern sechsmal höher als bei Arbeiterkindern. Ich finde, hier können wir nicht gleichgültig sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir dürfen nicht hinnehmen, dass in Deutschland Bildung gleichsam schichtenspezifisch vererbt wird.
Vor diesem Hintergrund ist es ein großer Fortschritt, dass sozialer Aufstieg mithilfe von BAföG künftig nicht mehr von der Kassenlage der Bundesländer abhängig ist, dass wir als Bund allein darüber entscheiden können, was da passiert.
(Beifall bei der SPD)
Der Bund kann und wird das BAföG selbstständig erhöhen, und die Länder können das Bildungssystem an den Stellen verbessern, an denen am stärksten über die Chancen unserer Kinder entschieden wird, nämlich in der frühkindlichen Bildung, in den Kitas, in den Grundschulen, in den Ganztagsschulen; da müssen wir ansetzen.
Lieber Toni Hofreiter, für Bremen fallen nicht nur 2 Millionen Euro für Kitas ab; durch den BAföG-Kompromiss wird das Land Bremen um 20 Millionen Euro entlastet, und das jedes Jahr. Dieses Geld kann nun gezielt für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem eingesetzt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sagen Sie das bitte Ihrer Finanzsenatorin.
Wir haben in der Koalition außerdem vereinbart, dass der Bund und die Länder im Bereich der Hochschulen wieder miteinander kooperieren können. Auch das ist ein wichtiger Fortschritt. Dadurch wird das Glas halb voll; ganz voll wird es erst, wenn der Bund auch die Schulbildung mittragen kann. Auf Dauer muss deshalb das Kooperationsverbot für den Schulbereich fallen; das ist unsere tiefe Überzeugung.
(Beifall bei der SPD)
Millionen Menschen in Deutschland freuen sich auf den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Für viele bedeutet er die größte Lohnerhöhung ihres Lebens. Der Mindestlohn stärkt die Kaufkraft und sorgt für fairen Wettbewerb. Damit haben wir erstmals eine Schranke nach unten eingezogen. Von dieser Schranke aus geht der Blick nicht mehr nach unten, sondern nur noch nach oben. Das ist für viele Menschen eine spürbare Veränderung in ihrem Alltags- und Erwerbsleben. Genau das wollen wir. Es ist auch eine Grundidee der sozialen Marktwirtschaft: Alle müssen die Möglichkeit haben, durch eigene Arbeit und Anstrengung ihren Lebensunterhalt zu verdienen, statt sich am Ende des Monats beim Sozialamt anstellen zu müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, diese Koalition tritt für ein Land mit freien und gleichberechtigten Bürgern ein, für ein weltoffenes Land, dem es wirtschaftlich gut geht. Alle sollen die Chance haben, aus eigener Kraft etwas aus ihrem Leben zu machen, die Zugewanderten genauso wie diejenigen, die hier schon immer leben. Wir wollen keine segmentierte Gesellschaft, in der die Besitzstandswahrer nur auf die Sicherung ihrer Pfründe bedacht sind. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Integration und Aufstiegsmöglichkeiten selbstverständlich sind, eine Gesellschaft, in der jeder und jede zum Wohlstand beitragen und an ihm teilhaben kann, eine Gesellschaft, in der jeder von Stabilität und Sicherheit profitieren kann. Wir wollen eine offene Gesellschaft und ein modernes Deutschland.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU)
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Volker Kauder.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3563151 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 42 |
Tagesordnungspunkt | Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt |