04.07.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 47 / Tagesordnungspunkt 26

Elisabeth ScharfenbergDIE GRÜNEN - Pflegeversicherung

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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Weiterentwicklung in der Pflege, Neuorientierung in der Pflege, heute nun die Stärkung der Pflege – egal welchen Namen Ihre Reform trägt, sie bleibt weit hinter den berechtigten Erwartungen der betroffenen Menschen und auch der Expertinnen und Experten sowie der Verbände zurück.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch innerhalb der Koalition scheint keine uneingeschränkte Harmonie zu herrschen.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Doch, doch!)

Frau Kollegin Mattheis, Sie haben dieser Tage nochmals – übrigens vollkommen zu Recht – den unsinnigen Pflegevorsorgefonds infrage gestellt, und die Reihen werden immer dichter; die taz berichtet heute davon.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, wenn die taz berichtet, dann ist das gefährlich!)

Auf den unsinnigen Pflegevorsorgefonds komme ich später noch einmal zurück.

Zunächst stelle ich fest: Ja, wir brauchen eine bessere Pflege, und dafür brauchen wir wesentlich mehr Geld. Deswegen ist es im Grundsatz richtig, dass diese Koalition den Beitragssatz zur Pflegeversicherung deutlich anheben will; das ist unbestritten.

(Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])

Ich will auch nicht abstreiten, dass das eine gewisse politische Kraft erfordert. Aber ich frage mich: Ist das schon Leistung genug? Nein, es ist nicht genug; denn mehr Geld allein ist kein Wert an sich, mehr Geld allein ist auch keine Reform. Geld ersetzt keine Ideen, und diese Koalition hat keine Ideen.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der SPD)

Sie haben keine Vision, wohin sich der Bereich Pflege in unserer Gesellschaft entwickeln könnte. Sie haben kein mutiges, kein fortschrittliches Konzept, in welche Richtung Sie die pflegerische Versorgung in unserem Land weiterentwickeln wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Völlig klar ist: Wir können nicht weitermachen wie bisher. Die Menschen in unserem Land wollen das auch nicht, und doch machen Sie einfach so weiter.

(Mechthild Rawert [SPD]: Das stimmt nicht!)

Sie setzen den Pflegezug auf die Schiene und lassen ihn in die falsche Richtung fahren. Aber bei einem Zug, der in die falsche Richtung fährt, ist eben auch jeder Haltebahnhof falsch. Auch wenn Sie uns hier erzählen, dass dieser Zug durch blühende Landschaften in Form Ihrer wirr zusammengewürfelten Leistungsverbesserungen fährt, können Sie es nicht schönreden. Am Ende des Tages liefern Sie Stückwerk ab. Sie nehmen die wirklich brennenden Probleme nicht in Angriff.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Machen wir es konkret!

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir es wissen!)

Sie haben wieder einmal die überfällige Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vertagt.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist überhaupt nicht das Thema! Weiter! – Tino Sorge [CDU/CSU]: Qualität geht vor Schnelligkeit, Frau Kollegin!)

Ob er dann, wenn er überhaupt jemals kommt, die hohen Erwartungen erfüllt, die über Jahre geweckt wurden, bleibt abzuwarten. Sie tun nichts für die Pflegekräfte. Sie tun nichts gegen den Fachkräftemangel. Über die angekündigte Reform der Pflegeausbildung sind Sie sich auch noch nicht einig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Sie haben auch noch nichts zur besseren Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf unternommen. Ebenso wenig schaffen Sie es, die Pflegeversicherung endlich nachhaltig und sozial gerecht zu finanzieren.

Stattdessen bleibt es dabei, dass sich die Privatversicherten konsequent aus der Solidarität mit den Schwächsten entziehen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dafür parken Sie 1 Milliarde Euro pro Jahr in einem Pflegevorsorgefonds, der nicht funktionieren kann. Auch hier wird nur der Anschein von Nachhaltigkeit erweckt. Wir haben dazu vor einigen Wochen eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Das Ergebnis war: Sie konnten oder wollten keine halbwegs konkrete Zahl nennen oder sagen, was genau dieser Fonds eigentlich bringt. Mit anderen Worten: Sie können Ihre eigene Politik gar nicht erklären, weil Sie selbst nicht genau wissen, was der Fonds bringen soll, oder weil Sie genau wissen, dass der Fonds nichts taugt.

(Zuruf von der SPD: Alternativen bitte!)

Bis auf Herrn Spahn glaubt in dieser Koalition ja nicht wirklich jemand an diesen Unsinn.

(Zuruf von der CDU/CSU: Woher wissen Sie denn das? – Thomas Oppermann [SPD]: Was haben Sie denn vor?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Minister Gröhe, wie erklären Sie denn eigentlich den Pflegebedürftigen und den Angehörigen, den Pflegekräften und den gesetzlich Versicherten, dass Sie zwar viel Geld ausgeben werden – es ist das Geld der Versicherten, das Sie ausgeben –, aber die Probleme nicht wirklich angehen? Was sagen Sie den ausgepowerten Pflegekräften? Was sagen Sie den überforderten pflegenden Angehörigen, die mit ihren realen Problemen, mit denen sie sich tagtäglich auseinandersetzen müssen, weiterhin alleingelassen werden? Diese Menschen werden dieser Debatte heute kopfschüttelnd und enttäuscht folgen. Herr Gröhe, Sie bleiben hier nicht nur Antworten schuldig – das muss ich Ihnen ganz offen sagen –,

(Mechthild Rawert [SPD]: Sie sollten schon mal besser zuhören! Das wäre hilfreich gewesen!)

sondern ignorieren auch die Lebenswelt und die Lebenswirklichkeit genau derer, die eine echte Pflegereform dringend gebraucht hätten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Dieses Gesetz ist keine Pflegereform. Es ist allenfalls eine Pflegeversicherungsreform, eine sehr teure, aber bestimmt keine fortschrittliche Reform. Pflege ist mehr, viel mehr als nur die Pflegeversicherung. Das müssen wir endlich alle begreifen. Sie müssen sich viel deutlicher darauf besinnen, worum es bei den Betroffenen eigentlich geht. Deswegen sollten Sie sich, deswegen sollten wir uns alle fragen, welche Versorgung wir uns denn für uns selbst wünschen. Sagen Sie einmal ganz ehrlich: Wollen Sie für sich wirklich nur etwas mehr von dem, was wir schon haben? Das ist nämlich genau der Kurs, den Sie hier fahren. Ist es wirklich damit getan, die Leistungen der Pflegeversicherung um 4 Prozent anzuheben? Ich will das nicht kleinreden, wirklich nicht.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das tun Sie die ganze Zeit! Seit fünf Minuten!)

Aber ist das die Antwort auf die Probleme, die wir in der Pflege haben, die dieses Land braucht?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Welche Antwort braucht denn dieses Land?)

Wird diese Antwort den Menschen die Angst vor einem unwürdigen Leben im Alter nehmen?

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Solange wir das machen, haben wir keine Angst!)

Geht es nicht vielmehr darum, den Menschen eine Perspektive zu eröffnen, damit sie selbstverständlich auch bei Pflegebedürftigkeit an dieser Gesellschaft teilhaben können,

(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Was sind denn Ihre Vorschläge? Noch kein einziger Vorschlag!)

die Perspektive, dass ein Leben im Alter und bei Pflegebedürftigkeit keine Last, sondern ganz normaler Bestandteil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist?

(Thomas Oppermann [SPD]: Was schlagen Sie vor?)

Teilhabe ist ein elementares Grundbedürfnis, ein elementares Recht. Das spielt in Ihrem Reformwerk aber überhaupt keine Rolle. Dabei ist es das, worum es uns allen im Kern geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu braucht es ein grundlegendes Umdenken. Wir müssen Pflege wieder stärker als Aufgabe und Verantwortung von uns allen und für uns alle begreifen. Ein bisschen Rumwerkelei an der Pflegeversicherung ist einfach zu wenig. Es braucht ein deutliches Signal zur Stärkung ambulanter Versorgungsstrukturen. Wir brauchen einen neuen Pflegebegriff, mit dem nicht nur bestehende Leistungen der Pflegeversicherung erweitert werden, sondern mit dem flexible Formen von Leistungen bereitgestellt werden, Leistungen, die die Betroffenen bei der Führung eines selbstbestimmten Lebens wirklich unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hilde Mattheis [SPD]: Das machen wir jetzt!)

Das Allerwichtigste ist: Die Pflege muss wieder dort gestaltet und gesteuert werden, wo sie stattfindet, das heißt vor Ort, in den Gemeinden, in den Vierteln, in den Quartieren, dort, wo die Menschen leben. Das kann eine Pflegeversicherung alleine aber nicht stemmen. Wir müssen vor allem die Kommunen in die Lage versetzen und dabei unterstützen, diese Gestaltungsaufgabe wieder wahrnehmen zu können. Das ist die eigentliche Zukunftsaufgabe, um die es geht.

In Ihrem Koalitionsvertrag steht einiges dazu drin. Dort steht auch, dass Sie sich mit der Situation der Kommunen beschäftigen wollen und klären wollen, wie die Rolle der Kommunen bei der Pflege gestärkt werden kann. Nur, es passiert einfach nichts. Man hört rein gar nichts von Ihnen dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tino Sorge [CDU/CSU]: Machen Sie doch einmal die Augen und die Ohren auf! – Mechthild Rawert [SPD]: Sie müssen auf den Herbst warten!)

So mutig es erscheinen mag, der Pflegeversicherung mehr Geld zur Verfügung zu stellen, so kraftlos, beinahe feige, ist das, was Sie diesbezüglich am Ende des Tages anstellen.

(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Die Rede ist kraftlos! – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist eine enttäuschende Rede!)

Meine Fraktion, ich und auch die betroffenen Menschen im Land haben wirklich mehr von Ihnen erwartet.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tino Sorge [CDU/CSU]: Wir haben heute auch mehr von Ihnen erwartet!)

Vielen Dank. – Der nächste Redner ist Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3596732
Wahlperiode 18
Sitzung 47
Tagesordnungspunkt Pflegeversicherung
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