01.09.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 48 / Tagesordnungspunkt 1

Norbert Lammert - Regierungserklärung Humanitäre Hilfe im Irak

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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich, Herr Kollege Nouripour, klarstellen, dass es in den vergangenen Jahren die Unionsfraktion war, die das Thema Irak immer wieder auf die Tagesordnung des Auswärtigen Ausschusses gesetzt hat. Ich meine, da waren Sie dabei. Ich möchte auch betonen, dass ich den Kollegen van Aken von der Linksfraktion dort als aktiveren Kollegen erlebt habe als Sie. Deshalb ist die von Ihnen eben getroffene Pauschalisierung, wir würden erst dann unserer Verantwortung gerecht werden, wenn es brennt, absolut unzutreffend.

(Zurufe von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich verweise auch darauf, dass in einer Zeit, als viele Politiker aus diesem Hause in ihren Reden noch an al-Maliki festgehalten und seine falsche Politik in schönen Farben gemalt haben, unsere Bundeskanzlerin als eine von wenigen Staats- und Regierungschefs bereit war, den Präsidenten der autonomen Region Kurdistan, Massud Barsani, zu empfangen. Das war im vergangenen Jahr. Premierminister Netschirwan Barsani hat sie ebenfalls empfangen. Vor diesem Hintergrund möchte ich deutlich sagen, dass die Hilfe, dass die Unterstützung, die die autonome Region Kurdistan seit Jahren aus Deutschland erhält, keine Eintagsfliege ist, sondern Ausdruck eines langfristigen Engagements. Das dokumentieren wir sowohl durch den Antrag heute als auch durch die Entscheidung, die gestern gefallen ist, als auch durch das, was Gerd Müller und sein Haus an langfristiger Unterstützung zugesagt haben, nämlich durch die Ausweitung des humanitären Beitrags. Diesen Dreiklang halte ich für sehr wichtig und für zentral.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was ist in Kurdistan, was ist im Nordirak passiert? Noch vor einigen Wochen waren sich die Kurden sehr sicher, dass sie in der Lage wären, jederzeit mit ihren Peschmerga-Einheiten den IS bzw. Daish zurückschlagen zu können. Diese Sicherheit hat sich als trügerisch erwiesen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, auf die hier schon mehrere Redner eingegangen sind. Zu den Gründen gehört sicherlich, dass die Motivation dieser Bande ganz anders ist als die Motivation einer normalen Armee. Im Grunde steht man einer Armee von Selbstmordattentätern gegenüber. Das hat sicherlich dazu geführt, dass ein taktisches Ausweichen der Peschmerga notwendig wurde, was sie politisch einen relativ hohen Preis gekostet hat. Natürlich kam gerade bei den Jesiden die Frage auf, warum die Peschmerga zurückgewichen sind. Meine Erklärung dafür lautet: Dieses taktische Ausweichen war notwendig, weil selbst die gut vorbereiteten Kämpfer der Kurden nicht damit gerechnet haben, dass ISIS so gut ausgestattet ist.

Das ist der zweite Punkt. ISIS ist so gut ausgestattet wie kaum eine andere Terrorgruppierung. Das liegt daran, dass sie Geld erobert haben, ihnen aber auch aus anderen Ecken des Nahen Ostens Geld zugeleitet wurde. Darüber kann man jetzt lange spekulieren. Wenn mir jemand aus diesem Hause genau sagen kann, wer wann wo ISIS unterstützt hat, bin ich natürlich sofort bereit, die härtesten Maßnahmen, die der UNO-Sicherheitsrat vor zwei Wochen beschlossen hat, anzuwenden. Aber die konkreten Beweise liegen eben noch nicht vor. Deshalb bitte ich Sie: Hören Sie auf, im Nebel herumzustochern und zu sagen, man wüsste genau, wer was wann getan hat. Das ist in diesem Zusammenhang nämlich nicht so einfach, wie Sie das darstellen. Seien Sie versichert: Die Bundesregierung und die ihr unterstehenden Behörden beobachten das ganz genau. Sobald Beweise vorliegen, wird natürlich der Beschluss des UNO-Sicherheitsrates angewandt werden.

Eines ist klar – das ist aus meiner Sicht das größte Problem –: Die Motivation dieser häufig sehr hoffnungslosen jungen Männer, die sich dieser Truppe angeschlossen haben, ist mit Sicherheit die größte Gefahr, die von ISIS ausgeht. Diese jungen Männer haben nichts zu verlieren, und sie haben sich dieser Gruppierung in einer Zeit angeschlossen, in der sie auf dem Vormarsch ist. Sie schlagen mit viel größerer Brutalität zu als die anderen Terrorgruppen zuvor. Das wird uns sicherlich längerfristig beschäftigen. Ich glaube daher, dass die Lösung nicht mit Waffengewalt allein erreicht werden kann, sondern ein größerer politischer Ansatz notwendig ist. Gerade deshalb haben Spitzenvertreter unserer Fraktion immer wieder das Gespräch mit den Kurden gesucht. Volker Kauder und Andreas Schockenhoff haben von den Gesprächen berichtet.

Der Kollege Ströbele würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Darf er das?

Sehr gerne.

Bitte schön.

Herr Kollege Mißfelder, Sie haben darauf hingewiesen, dass die Peschmerga Probleme hatten, die ISIS- Truppen abzuwehren, und sich deshalb zurückgezogen haben. Haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass diejenigen, die tatsächlich Flüchtlinge gerettet haben, überwiegend PKK-Kämpfer waren, die sich auch in der Gegend dort aufhalten? Und was sagen Sie dazu, dass es von den Eingeweihten – auch von denjenigen, die aus Deutschland in den Irak reisen – mit großem Lob versehen wird – übrigens auch von mir –, dass sich die PKK-Kämpfer dort durchgesetzt und viele Flüchtlinge gerettet haben, aber gleichzeitig die reine Mitgliedschaft in der PKK in Deutschland dazu führt – solche Urteile werden hier ständig gefällt –, dass man mehrere Jahre ins Gefängnis kommt? Halten Sie es nicht für etwas sehr schizophren oder pervers, die PKK auf der einen Seite, weil sie dort Positives bewirkt hat, zu loben und sie auf der anderen Seite hier strafrechtlich zu verfolgen?

Nein, ich halte das nicht für pervers – so haben Sie es bezeichnet –, sondern für eine Realität, wie sie allzu häufig typisch für den Nahen Osten ist. Das, was Sie Positives über die PKK, genauer gesagt über den syrischen Teil einer der PKK sehr nahestehenden Organisation gesagt haben, ist ja richtig. Natürlich hat die PKK an der einen oder anderen Stelle konstruktiv gewirkt. Sie hat sich allerdings noch lange nicht von ihrem eigentlichen Ziel losgesagt, auch gegen den Widerstand der Türkei ein Großkurdistan errichten zu wollen.

Diese Diskussion über die Frage eines möglicherweise unabhängigen Kurdenstaates wird bei uns immer vermischt. Aus der deutschen Perspektive wird allzu häufig so getan, als ob das, was die autonome Regierung in Arbil sagt, genau das Gleiche wäre wie das, was die PKK proklamiert. Das ist nicht so. Deshalb war auch der Appell an Ankara vorhin nicht falsch. Es ist doch eine große politische Leistung gewesen, dass sich die Regierung in Arbil mit Ankara ausgesöhnt hat. Das hat die PKK nicht, Herr Ströbele. Solange das nicht der Fall ist und solange die PKK weiterhin eine Terrorgefahr für ein NATO-Land darstellt – sie hat auch versucht, diese Konflikte in Deutschland auszutragen; das ist ja hinlänglich bekannt –, bin ich der Meinung, dass die Einstufung der PKK nach wie vor gerechtfertigt ist, egal ob sie in den letzten Wochen Gutes oder Schlechtes getan hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wollte auf den Punkt hinweisen, den Andreas Schockenhoff und Volker Kauder herausgearbeitet haben. Natürlich stellt sich in einer solchen schwierigen Abwägungssituation die Frage: Trifft man eine Entscheidung, bei der man sich zu 100 Prozent sicher ist, das Richtige getan zu haben? Das wird man immer erst im Rückblick beurteilen können. Aber in der Abwägungsentscheidung ist es so, dass wir gerade auf den Schutz der Minderheiten achten müssen. Das beziehe ich nicht nur auf assyrische Christen und auf Christen, die seit langer Zeit dort leben, sondern explizit auf die Jesiden, die knapp einem Völkermord entgangen sind, wobei dieser ja gerade schon angefangen hatte. Ich beziehe das auch auf all diejenigen, die sich nicht Daish anschließen, und auch auf die Sunniten, die in den Nordirak geflohen sind.

Der Garant für die Sicherheit dieser Menschen ist aktuell die autonome Regierung in Kurdistan und sind natürlich die Stämme, die dort die Verantwortung tragen, egal ob es die PUK repräsentiert durch Talabani ist oder Barsani mit der KDP. Das sind die Partner, die sich in der Vergangenheit als sehr zuverlässige Partner herausgestellt haben. Deshalb ist es in der Abwägungsentscheidung richtig – das beantwortet zum Teil auch die Fragen von Herrn Nouripour –, gerade denjenigen die Waffen zur Verfügung zu stellen, die sich als verlässlicher Partner herausgestellt haben. Diesen Weg halte ich für gangbar und für vertretbar.

Eine Gewissheit zu 100 Prozent hat man natürlich nie. Deshalb hat man sich ja auch regierungsintern mit der Entscheidung schwergetan. Deshalb haben wir auch einige Zeit für diese schwierige Abwägungsdiskussion gebraucht – wir haben sie ja nicht über Nacht geführt –, und wir haben einen Versuch unternommen, sie politisch einzubetten.

Dazu möchte ich zum Abschluss auch noch etwas sagen. Ich glaube, dass die Ein-Irak-Politik keine Monstranz sein darf, die wir vor uns hertragen. Eine wirkliche Ein-Irak-Politik muss bedeuten, dass auch die Schiiten, die die Macht in Bagdad haben, bereit sind, den Wohlstand des Landes mit allen anderen Volksgruppen zu teilen. Dazu waren sie in diesem Jahr nicht bereit. Dies hat deutlich zu einer Verschärfung der Situation geführt. Nicht ohne Grund haben sich so viele Sunniten, die hoffnungslos in ihren Armutsghettos lebten, der Daish angeschlossen und sind der Überzeugung, mit dieser Terrororganisation eine bessere Zukunft zu haben, als sich weiter von Maliki und seinen Leuten unterdrücken zu lassen. Vor dem Hintergrund ist es richtig, an die neue irakische Regierung zu appellieren. Sie muss in deutliche Vorleistung treten und das erfüllen, was die Verfassung vorschreibt: den Wohlstand teilen. Wenn wir die Ein-Irak-Politik unterstützen sollen – das erwartet man von uns –, dann muss sich Bagdad mehr bewegen. Das hat Bagdad in der Vergangenheit nicht getan. Die Verantwortlichen dort müssen endlich beginnen, sich zu bewegen; denn sonst wird die Konsequenz sein, dass dieses Land zerfällt. Das wollen wir nicht, weil wir glauben, dass die Situation danach noch schwieriger sein wird, als sie es heute ist. Aber Bagdad hat das zum Teil selbst in der Hand.

Ich möchte zuallerletzt auf noch etwas hinweisen. Hier ist ja auch über die Möglichkeiten eines politischen Dialogs gesprochen worden. Ich bin relativ skeptisch, was eine mögliche Versöhnung angeht. Volker Kauder hat es gesagt: Gerade die besitzenden Christen sind ihres Wohlstandes beraubt worden. Sie sind teilweise von ihren Nachbarn in schlimmster Art und Weise verraten worden. Ich kann mir nur sehr, sehr schwer vorstellen, dass es in diesen zwölf Dörfern um Mosul herum, um die es vor allem geht, zu einer einfachen Versöhnung kommt. Ich glaube, das ist eine sehr große politische Herausforderung, die uns noch lange Zeit beschäftigen wird; der Wohlstandsaspekt gehört definitiv dazu. Wirtschaftliche Aspekte wie auch die strukturelle Verbesserung der humanitären Situation, die ebenfalls definitiv dazugehört, werden uns über die Lieferung von Waffen hinaus in der Irak-Politik über diesen Tag hinaus noch weitaus stärker beschäftigen als bislang.

Ohne die Amerikaner, ohne deren entscheidendes Eingreifen in den vergangenen Wochen und ohne das beherzte Zugreifen der Peschmerga in der zweiten Phase der Auseinandersetzung mit ISIS wäre Kurdistan allerdings schon längst überrannt worden. Ich möchte deshalb auch daran erinnern, was für eine schwierige Geburt es war, bis unsere heutige Entscheidung geboren wurde. Ohne die Amerikaner und ohne den Mut der Kurden selbst hätten wir nicht die Zeit gehabt, diese lange Diskussion in Deutschland überhaupt zu führen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Frank Schwabe erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3816844
Wahlperiode 18
Sitzung 48
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung Humanitäre Hilfe im Irak
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