10.10.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 58 / Tagesordnungspunkt 21

Iris GleickeSPD - Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit steht in diesem Jahr ganz im Zeichen der friedlichen Revolution in der DDR. Er würdigt die Verdienste der Bürgerrechtler und Demonstranten, die sich mutig gegen Diktatur und staatliche Willkür erhoben haben. Sie haben den Grundstein für Freiheit und Demokratie in Ostdeutschland gelegt und die Einheit unseres Landes überhaupt erst möglich gemacht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie haben die Mauer eingerissen.

Ich weiß, wir sprechen häufig vom Fall der Mauer. Aber diese Mauer ist nicht von alleine umgefallen – im Gegenteil. Viele Menschen haben erfahren müssen, wie brutal und unüberwindlich diese Mauer gewesen ist. Nicht wenige von denen, die versucht haben, sie zu überwinden, sind im Stacheldraht verblutet. Das alles dürfen wir niemals vergessen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir dürfen auch niemals vergessen, wie unglaublich viel wir den Demokratie- und Freiheitsbewegungen im Ostblock zu verdanken haben: in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in Polen. Viel zu verdanken haben wir einzelnen Menschen wie Michail Gorbatschow, dem ich von hier aus gute Besserung wünsche. Ich habe heute Morgen gelesen, dass er im Krankenhaus liegt. Ich denke an Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher.

Aber ihre Freiheit, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben sich die Ostdeutschen selber erkämpft, mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolz als friedliche Revolution bezeichnen dürfen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Dass es so friedlich bleiben würde, war damals keineswegs abzusehen. Es gehörte vor 25 Jahren Mut dazu, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, in Leipzig und anderen Städten der DDR.

Ich kenne keinen, der damals keine Angst gehabt hätte. Denn die Bilder der brutalen Gewalt auf dem Platz des Himmlischen Friedens im fernen Peking liefen in dieser Zeit quasi als Dauerschleife im DDR-Fernsehen. Man darf nicht vergessen, dass Stasi-Vizechef Mittig am 26. September 1989 die Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen zusammenrief und forderte, die „feindlich-oppositionellen Zusammenschlüsse“ mit dem Ziel der Zerschlagung „operativ zu bearbeiten“.

Ich erinnere auch daran, dass Verteidigungsminister Keßler zum 40. Jahrestag der DDR vorsorglich die NVA für den Einsatz in Ostberlin in Stellung brachte, auf Grundlage eines Honecker-Befehls „zur Verhinderung von Provokationen unterschiedlicher Art“.

Die Angst war da. Sie war ganz real. Aber wir haben sie überwunden. Dieser Mut und die Leidenschaft der friedlichen Revolutionäre werden in diesem Bericht gewürdigt, und es wird das Leben der ganz großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gewürdigt, die ganz einfach versucht hat, ein anständiges Leben zu führen. Wolfgang Thierse hat in diesem Zusammenhang einmal vom richtigen Leben im falschen System gesprochen. Das war ein Leben voller Widersprüche. Wir haben gewusst, dass in der Disko die Stasi immer mittanzt. Aber wir sind trotzdem gerne tanzen gegangen. Es gibt die schönen Geschichten vom Stolz auf die bestandene Prüfung, vom Kribbeln im Bauch beim ersten Kuss, von der ersten Fahrt im eigenen Auto, vom Gartenhaus, in dem man zumindest weitestgehend seine Ruhe hatte vor diesem alles wissen wollenden Staat. Aber ich will keine Ostalgie. Ich will, dass auch die anderen, die schlimmen Geschichten erzählt werden, die Geschichten vom kleinen und großen Verrat, von Demütigung und Verfolgung, von Knast und Zwangsarbeit, vom Verlust geliebter Menschen durch Ausbürgerung und Flucht und schlimmstenfalls durch den Tod. All diese Geschichten, die schönen und die hässlichen, machen die irrsinnigen Widersprüche dieser DDR-Gesellschaft deutlich. Aus all dem und noch viel mehr hat unser Leben bestanden. Roland Jahn hat völlig recht mit seiner Feststellung, dass niemand „nur Rebell oder nur Angepasster“ war. Das gilt es zu begreifen, und das gilt es zu respektieren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Angesichts dessen empfinde ich die aktuelle Debatte darüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war oder nicht, schlicht und ergreifend als banal.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was ist das?)

Im Grunde ist es doch ganz einfach: Die DDR war eine Diktatur, übrigens eine ziemlich üble und spießige Diktatur. Eine Diktatur ist nun einmal ein Unrechtsstaat. Das gehört zu ihrem Wesen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die Linke hat vergessen, zu klatschen!)

Aber das sagt nur etwas über das System aus. Es sagt wenig bis nichts über die Menschen, die in diesem System gelebt haben. Deshalb finde ich, dass uns solche Debatten nicht weiterbringen.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Viel wichtiger ist es, die Erinnerung zu bewahren und die Opfer dieses Systems angemessen zu würdigen. Deshalb ist es mir so wichtig, dass die Bundesregierung gerade beschlossen hat, die Opferrenten zu erhöhen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Wir sind als Ostdeutsche und als Westdeutsche mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen in die Einheit gegangen. Den Ostdeutschen hat das mehr abverlangt als den Westdeutschen. Das hat etwas mit dem zu tun, was wir heute als Transformation beschreiben. Während die Westdeutschen ihr vertrautes Leben weiterführen konnten, brach über die Ostdeutschen nach 1990 eine totale Veränderung so gut wie aller Lebensbereiche herein: ein vollständig neues Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschaftssystem, eine neue Verwaltung, Bildungsabschlüsse, um deren Anerkennung man sich kümmern und teilweise kämpfen musste, Alteigentümer, die Ansprüche geltend machten. Es kamen die Treuhand und eine Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeitslosigkeit und einer massiven Abwanderung. Ich kann und will das alles hier nicht aufzählen.

Tatsache ist, dass wir Ostdeutschen in den vergangenen fast 25 Jahren eine unglaubliche Anpassungsleistung hinter uns gebracht haben. Für mich als Abgeordnete mit einem schönen Büro im Deutschen Bundestag war das relativ leicht. Andere hatten und haben es da schwerer. Viele haben ihre Arbeit verloren und nie wieder eine vernünftige und anständig bezahlte Arbeit gefunden. Wiederum andere haben versucht, sich eine eigene Existenz aufzubauen, und sind dabei zum Teil entsetzlich gescheitert. Es gibt kaum einen Ostdeutschen, der so etwas nicht aus der eigenen Familie oder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis kennt. Manchmal wird mit einem sehr verächtlichen Unterton von den Verlierern der Einheit gesprochen. Ich finde das nicht nur dumm, sondern schändlich. Auch sie gehören zu dieser Geschichte der deutschen Einheit. Auch ihr Beitrag zählt. Sie haben zumindest Anspruch auf unseren Respekt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, in meinen Augen ist die Geschichte der deutschen Einheit keine reine Erfolgsgeschichte. Trotzdem sage ich, dass ich sehr stolz auf das bin, was wir Ostdeutschen in den letzten 25 Jahren erreicht haben: ein mittlerweile wirklich gut ausgebautes Verkehrsnetz, die Beseitigung der verheerenden Umweltschäden, sanierte und liebevoll restaurierte Innenstädte, eine verbesserte Wohn- und Lebensqualität sowie eine moderne, mittelständisch geprägte Industrie- und Forschungslandschaft. Hinzu kommen Universitäten, deren Ruf so gut ist, dass immer mehr junge Menschen aus dem Westen dort studieren wollen. Ohne die große Solidarität des Westens hätten wir das nie geschafft. Diese Solidarität wird geradezu entwertet von all den Erbsenzählern, die uns immer wieder vorrechnen, wie viele Milliarden, Billionen oder Fantastilliarden Euro bis jetzt schon im sogenannten Milliardengrab Aufbau Ost verschwunden sind.

Ich sage Ihnen hier sehr offen: Der Aufbau Ost ist noch längst nicht abgeschlossen. Auch nach 24 Jahren gibt es immer noch deutliche Unterschiede: eine Wirtschaftskraft, die gerade mal zwei Drittel von der des Westens beträgt, ein viel geringeres Steueraufkommen der Länder und Kommunen sowie Löhne und Gehälter, die im Durchschnitt 20 Prozent unter denen im Westen liegen. Sie wissen, meine Damen und Herren, in manchen Branchen haben wir eine Angleichung von 97 Prozent erreicht, in anderen Branchen aber liegen wir bei 45 Prozent Unterschied. Hier wird eine ganz große Disparität deutlich. Wir haben eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit und einen wirtschaftlichen Aufholprozess, der sich so sehr abgeschwächt hat, dass die Pessimisten behaupten könnten, er sei zum Stillstand gekommen.

Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, um diese Unterschiede zu beseitigen. Beim Rentenrecht aber ist es anders; denn wir werden das in Ost und West noch immer unterschiedliche Rentensystem in dieser Legislaturperiode endlich angleichen, damit es in dieser Frage ab 2019 keine Unterschiede mehr gibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das steht aber nicht in Ihrem Koalitionsvertrag!)

Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftsdaten besagen, dass der Osten auch über das Jahr 2019 und damit über das Ende des Solidarpaktes hinaus eine verlässliche Förderung braucht. Wenn diese nicht kommt, wenn wir eine Verlängerung nicht hinkriegen, würgen wir den Motor ab, der gerade erst richtig ins Laufen kommt. Dann waren alle bisherigen Anstrengungen für die Katz. Ich bin deshalb wirklich froh darüber, dass unsere Bundeskanzlerin, unser Vizekanzler, unser Bundesfinanzminister und unsere Bundesfamilienministerin dazu klare Ansagen gemacht haben. Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir halten am Auftrag des Grundgesetzes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse fest. Das gilt natürlich auch für die strukturschwachen westdeutschen Regionen. Auch sie brauchen eine solche verlässliche Förderung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist deshalb wirklich keine Übertreibung, wenn ich feststelle: Die Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleichs, die sich diese Koalition vorgenommen hat, ist eine echte Schicksalsfrage nicht nur für Ostdeutschland, sondern für unser ganzes Land.

(Beifall der Abg. Petra Crone [SPD])

Ich bin mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsam meistern werden, weil wir alle wissen, worum es geht.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben auf dem Weg zur inneren Einheit große Fortschritte gemacht. Das Ziel erreicht haben wir noch nicht. Aus meiner Sicht liegt das daran, dass dieser Weg nur über gegenseitigen Respekt und gegenseitige Anerkennung beschritten werden kann. Das klingt so leicht und fällt doch vielen offenbar recht schwer. Die jungen Leute machen es uns vor mit ihrem unverkrampften Umgang miteinander. Ich finde, auch das ist in diesem Jahr ein guter Grund zum Feiern.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dietmar Bartsch ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3967587
Wahlperiode 18
Sitzung 58
Tagesordnungspunkt Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta