Steffi LemkeDIE GRÜNEN - Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es irgendwie noch gar nicht glauben, dass es 25 Jahre her ist, dass das inzwischen so verdammt lange her ist, weil sich die Bilder aus dem Herbst 1989 – ich glaube, das geht allen so, die dabei waren; meine Kollegin Lazar hat das heute Morgen schon zum Ausdruck gebracht – so tief ins Gedächtnis eingebrannt haben.
Ich bin für diese Debatte anlässlich dieses Jubiläums sehr dankbar. Ich bin auch Ihnen, Frau Gleicke, sehr dankbar – ich komme darauf noch zurück –, weil dieses Jubiläum für unsere Gesellschaft eine riesengroße Chance ist, über die friedliche Revolution 1989 und vor allem über das, was danach kam, offen zu reden und anders darüber zu reden, als das bisher der Fall gewesen ist. Manchmal gab es dafür keine Gelegenheit. Hauptsächlich lag das aber daran, dass manche Dinge einfach unter den Teppich gekehrt worden sind, über die wir miteinander einmal sprechen sollten.
Ich bin Ihnen – das hatte ich schon gesagt –, Frau Gleicke, sehr dankbar, dass Sie diesen Bericht zum ersten Mal anders verfasst haben, dass zum ersten Mal in einem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit tatsächlich der Versuch unternommen wird, zu erklären, was da vor 25 Jahren und in den 25 Jahren seitdem passiert ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es ist das erste Mal, dass eine Bundesregierung in einem Bericht zur Deutschen Einheit versucht – wir debattieren über dieses Thema hier nicht so oft –, eine Art politische Zusammenfassung des bisherigen Geschehens zu geben. Ich glaube, dass es Aufgabe der Politik ist, den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einordnung dieser Ereignisse zu ermöglichen, vor allem denjenigen, die nicht persönlich dabei gewesen sind. Ich glaube, das wurde in den Vorgängerberichten gar nicht versucht. Der Mut und der Wille, das zu tun, waren in der Bundesregierung nicht vorhanden. Es ist Ihr persönliches Verdienst, dies jetzt begonnen zu haben. Auf das, was ich mir für den nächsten Bericht wünsche, komme ich gleich noch zu sprechen. Wir müssen aber endlich mit den verkrampften Bemühungen aufhören, anhand von Statistiken und Zahlen über verbauten Beton zu erklären, was da passiert ist. Ich glaube, 25 Jahre danach ist es an der Zeit, dies zu tun.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich bin Ihnen dankbar – ich weiß gar nicht, ob Ihnen das bewusst war –, dass Sie diesen Bericht unter den Titel „Wir sind das Volk“ gestellt haben. „ Wir sind das Volk“ war der Ruf von 1989. Dankbar bin ich auch dafür, dass Sie aufgegriffen haben, was ein wesentlicher Bestandteil der Demonstrationen in der Anfangszeit gewesen ist: „Wir bleiben hier“. Ein essenzieller Bestandteil meiner persönlichen Biografie – ich bin 1989 in Ungarn gewesen, als die Botschaft geöffnet wurde, und bin danach zurückgefahren – ist, dass wir damals in der Anfangszeit versucht haben, das Land, in dem wir geboren wurden, zu reformieren und zu verändern. Dass die deutsche Einheit ein Glücksfall für uns alle gewesen ist, steht lange vor der Klammer, außer bei ein paar Ewiggestrigen. Dass aber eine Bundesregierung in einem Bericht zur Deutschen Einheit schreibt, dass der Impuls für die deutsche Einheit gewesen ist, die DDR zu reformieren, ist für mich wirklich ein Fortschritt in dieser Debatte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
Wenn man versucht, 25 Jahre später zu erklären, was 1989 passiert ist, dann muss man, da manchmal so lockig und flockig der Eindruck erweckt wird, irgendjemand hat halt demonstriert, betonen: Es sind Zehntausende unter Lebensgefahr auf die Straße gegangen, und zwar in der Anfangszeit nicht, weil sie die D-Mark wollten, sondern weil sie Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung wollten. Das war der Impuls 1989.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Jeder Versuch, das heute 14-, 16- oder 18-Jährigen zu erklären, muss fehlschlagen, wenn man das nicht auch mit dem Ruf „Wir bleiben hier“ verbindet.
Ich fand den Schlagabtausch heute Morgen zwar einerseits bedrückend, denke aber, dass die Debatte insgesamt vorankommt. Wenn man nicht begreift, dass auch SED-Funktionäre, Stasimitglieder und Armeeangehörige einen Anteil daran hatten, und zwar einen wirklich relevanten Anteil, dass das im Jahr 1989 friedlich abgegangen ist, dann muss jeder Erklärungsversuch für die friedliche Revolution scheitern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
Auf beiden Seiten der Demonstrationsfelder haben sich teilweise Freunde gegenübergestanden. Das waren teilweise Familienangehörige. Das waren Freunde, die man ein paar Tage zuvor am Wochenende getroffen hatte. Wir waren uns ziemlich sicher, dass es Tausende in diesen Staatsorganen gab, die niemals auf uns geschossen hätten. Aber ob es genug sind, das wussten wir nicht, als wir da rausgegangen sind.
Ich frage mich andererseits, Frau Gleicke: Warum erst jetzt? Warum ist das Anerkennen der ostdeutschen Biografien in einem solchen Bericht zur Deutschen Einheit erst jetzt möglich? Wie weit könnten wir in unserem gesellschaftlichen Diskurs zum Zusammenwachsen sein, wenn das früher möglich gewesen wäre?
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Ich will zwei Punkte ansprechen, die im Bericht einfach fehlen; das empfinde ich als äußerst mangelhaft. Das ist einmal das offene Thematisieren von Dingen, die schiefgelaufen sind. Das Stichwort „Treuhand“ fiel heute schon einmal. Das muss man aus meiner Sicht ansprechen. Ansprechen muss man auch den damals gescheiterten Versuch der Bürgerrechtler, eine gemeinsame Verfassung für diese beiden Staaten zu erreichen, die sich zusammengeschlossen oder vereinigt hatten bzw. bei denen der eine an den anderen angeschlossen wurde.
Ich glaube, wir können in diesem Jahr nicht über 25 Jahre friedliche Revolution reden, ohne zu thematisieren, dass wir heute mit Geheimdiensten konfrontiert sind –
Frau Kollegin.
– ich komme zum Ende, Herr Präsident – und mit einem Spähskandal, der inzwischen selbst die Bundeskanzlerin zu Vergleichen mit der Stasi herausgefordert hat. Auch die damit verbundene Aufgabe müssen wir anpacken und bewältigen, wenn wir das Erbe der friedlichen Revolution nicht verschenken wollen.
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Daniela Kolbe das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3967828 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 58 |
Tagesordnungspunkt | Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit |