16.10.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 60 / Tagesordnungspunkt 3

Joachim PoßSPD - Regierungserklärung zum ASEM- und Euro-Gipfel und zum Europäischen Rat

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen in Europa, auch in Deutschland, im Epochenjahr 2014, wie es Heinrich August Winkler nennt, vor großen Aufgaben und Weichenstellungen. Zwar haben wir seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 und den nachfolgenden Turbulenzen im Euro-Raum unsere Handlungsfähigkeit verbessert. Aber ich fürchte, dass wir für die nun kommende Zeit mit den bisherigen Fortschritten, einschließlich der Bankenunion, nicht auskommen, dass wir uns in Europa weiter für das rüsten müssen, was da auf uns zukommt. Das sollten wir ganz realistisch ins Auge fassen und auch bei allen Fortschritten nicht verschweigen.

Deswegen möchte ich die Bundeskanzlerin, die jetzt ihren Flug nach Mailand antreten musste, wie sie mir sagte, in einem Punkt ergänzen. Sie sprach davon, dass Irland, Portugal und Spanien ihre Programme erfolgreich abgeschlossen hätten. Es mag, technokratisch gesehen, richtig sein, die Programme abzuschließen. Die Kanzlerin hätte aber hinzufügen sollen: Die wesentlichen Probleme in diesen Ländern sind damit noch nicht gelöst, vor allen Dingen nicht das Problem der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit.

(Beifall bei der SPD)

Dies zeigen auch andere Strukturdaten. Die Verschuldung in Spanien zum Beispiel wird bis 2015 noch steigen. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.

Wir als Bundesrepublik Deutschland sollten unseren Beitrag dazu leisten, dass eine teilweise unfruchtbare Debatte in Europa – auf der einen Seite die Forderung nach mehr Investitionen, auf der anderen Seite die nach mehr Strukturreformen – in der bisherigen Form beendet wird. Sie führt in eine Sackgasse. Wir brauchen mehr Investitionen in den einzelnen Ländern Europas, und wir brauchen auch mehr Strukturreformen in den einzelnen Ländern; das ist nicht zu leugnen.

(Beifall bei der SPD)

Strukturreformen bedeuten ja nicht nur, Arbeitsgesetze zu ändern. Strukturreformen bedeuten vor allen Dingen, ein vernünftiges Berufsausbildungssystem einzurichten. Strukturreformen bedeuten auch, dass die staatlichen Institutionen ihre Aufgaben wahrnehmen, dass etwa die Jugendgarantie tatsächlich umgesetzt wird. Ich habe nicht verstanden, warum Hollande in Mailand gesagt hat, wir bräuchten noch 20 Milliarden Euro mehr. Wir sind aus ganz unterschiedlichen Gründen noch nicht einmal in der Lage, 6 Milliarden Euro im Rahmen der Beschäftigungsinitiative kollektiv auszugeben. Das ist Teil der europäischen Realität.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mit dieser Realität müssen wir uns beschäftigen, ebenso mit der Praxis. Angesichts der Transparenz und Effizienz in manchen Ländern muss ich sagen: Da ist noch viel Luft nach oben; da ist man gelegentlich sogar erschrocken über das Ausmaß. Ich verschweige auch nicht das Ausmaß der Korruption, das in einigen Ländern erschreckend hoch ist. Auch das muss thematisiert werden, das können wir nicht so ohne Weiteres tolerieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen ist die wichtigste Reform in vielen Ländern, Rechtssicherheit herzustellen. Matteo Renzi sagt nicht umsonst: Ich will eine Justizreform. – Wenn man in Italien innerhalb von fünf Jahren kein Urteil bekommt – egal in welcher Angelegenheit –, fördert das nicht die Rechtssicherheit und auch keine langfristigen Investitionen. Das sind Punkte, über die wir uns verständigen müssen. Da müssen auch die vorhandenen Möglichkeiten genutzt werden.

Wenn Bulgarien, Italien, die Slowakei und Rumänien weniger als 56 Prozent der Strukturfördermittel in der Periode 2007 bis 2013 abgerufen haben, bedeutet das einen Verzicht auf viele Arbeits- und Ausbildungsplätze in den jeweiligen Ländern. Das muss die Linkspartei auch einmal zur Kenntnis nehmen, bevor sie mit Schuldzuweisungen arbeitet, die an der Realität in Europa vorbeigehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Strukturmittel in Höhe von 102 Milliarden Euro sind nicht abgerufen worden. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, das konkret zu ändern, und zwar auf der europäischen Ebene. Das muss die neue Kommission leisten. Der Bewilligungsprozess ist in der Tat sehr bürokratisch, und es bestehen Unterschiede in den einzelnen Ländern, was die Fähigkeit angeht, diese Mittel abzurufen.

Nur nebenbei: Die Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur ein Problem in den südlichen Ländern. In 18 EU-Ländern liegt sie über 20 Prozent, zum Beispiel in Schweden bei 27,6 Prozent und in Irland bei 26,9 Prozent.

Das sind die Probleme, mit denen wir uns in den nächsten Jahren auseinandersetzen müssen mit einem Policy Mix, der konkrete Fortschritte bei Investitionen und Strukturreformen sowie eine angemessene Konsolidierung umfasst. Deswegen brauchen wir auch Finanzierungsmittel. Wir brauchen praktische Fortschritte im Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung. Starbucks, Google und Co. und auch große deutsche Konzerne müssen von uns gezwungen werden, endlich Steuern in Europa zu zahlen, damit wir diese Initiativen finanzieren können.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Maik Beermann [CDU/CSU])

Die Aufhebung des sogenannten Bankgeheimnisses, die jetzt im Ecofin beschlossen wurde – dafür haben einige wie ich jahrzehntelang gekämpft –, kommt zwar etwas spät, aber sie ist gleichwohl richtig und eine wesentliche Voraussetzung, um in diesem Kampf erfolgreicher zu sein. Man muss es offen sagen: Dagegen gab es in diesem Parlament massiven Widerstand von Konservativen und Liberalen über Jahre und Jahrzehnte. Das hat sich geändert. Das halte ich für einen Fortschritt.

Die Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank zur Ankurbelung der Investitionen sind genannt worden. Da müssen wir durch Anhebung des Eigenkapitals ein Vielfaches an Investitionsvorhaben fördern.

In den Gesprächen, die ich in den letzten Monaten in Europa geführt habe – sei es mit Ökonomen und Vertretern der Wirtschaft oder mit Politikern –, bin ich auf ein Problem gestoßen, das mir nicht unbekannt ist: Das ist die wachsende Ungleichheit hier in Europa und auch in den USA. Auch das ist ein Problem, das durch die Europäische Union und das, was Juncker bisher gesagt hat, nicht adressiert worden ist.

Wir haben also viel zu tun. Dieses deutsche Parlament sollte einen wirklich konstruktiven Beitrag leisten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3990994
Wahlperiode 18
Sitzung 60
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum ASEM- und Euro-Gipfel und zum Europäischen Rat
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