Katja DörnerDIE GRÜNEN - Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Berufstätigkeit und die Pflege von Angehörigen, von Menschen, die einem nahestehen, besser oder überhaupt vereinbaren zu können, ist tatsächlich eine drängende Herausforderung, der wir uns stellen müssen und auf die wir politische Antworten finden müssen. Insofern ist es wichtig, dass wir heute diese Debatte führen. Wir müssen aber endlich zu Lösungen kommen, die auch praxistauglich sind und die Familien im Alltag tatsächlich unterstützen. Da habe ich bei dem vorliegenden Gesetzentwurf leider einige Fragezeichen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich selbst komme aus einem kleinen Dorf im Westerwald.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schöne Gegend!)
Als ich ein Kind war, da war die Sache klar – ich beschreibe es jetzt etwas scherenschnittartig –: Die Frauen kümmerten sich um die Kinder, manche waren danach halbtags berufstätig, viele auch nicht, und wenn, dann haben sie ihren Job wieder aufgegeben, um sich um ihre Mütter und Schwiegermütter, um ihre Väter und Schwiegerväter und auch um die kinderlosen Tanten zu kümmern, wenn diese pflegebedürftig wurden. Ich will hier gar nicht die Frage stellen, ob das gut und gerecht war, ob die Frauen, aber auch die Pflegebedürftigen sich das so vorgestellt haben, obwohl man, glaube ich, diese Frage sehr wohl stellen sollte. Das war einfach so, aber so ist es eben nicht mehr bzw. wird immer weniger so sein.
Wir leben im demografischen Wandel. Die Anzahl pflegebedürftiger Menschen steigt. Frauen sind berufstätig. Sie wollen berufstätig sein, aber sie müssen es auch, sonst ist Altersarmut vorprogrammiert. Viele Menschen haben keine Kinder. Die Kinder vieler Menschen leben ganz woanders. Trotzdem sagen viele – und das finde ich sehr gut –, dass sie ihren Eltern, dass sie Menschen, die ihnen nahestehen, etwas zurückgeben wollen, wenn diese pflegebedürftig sind. Ich finde es sehr wichtig, dass wir das unterstützen. Aber mit diesem Gesetz wird uns das nicht weitergehend gelingen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in der vergangenen Legislaturperiode hat sich Kristina Schröder schon die Zähne an einer Familienpflegezeit ausgebissen. Die positiven Aspekte des damaligen Vorschlags sind zwischen Referentenentwurf und der Beschlussfassung des Gesetzes komplett ausradiert worden. Das Gesetz war ein Rohrkrepierer: Seit 2011 haben gerade einmal – wir haben es schon gehört – rund 300 Menschen die Familienpflegezeit überhaupt in Anspruch genommen. Von den damals im Haushalt eingestellten 400 Millionen Euro flossen mickrige 17 000 Euro ab. Warum war das so? Die Antwort ist: Das Gesetz ging trotz massiven Bedarfs an der Lebensrealität der Familien vorbei. Meine Sorge ist, dass es dem Gesetz, das wir heute beraten, leider genauso ergehen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, richtig ist, dass die neue Familienpflegezeit einen zentralen Fehler des Schröderschen Konzepts beseitigt: Es soll zukünftig einen Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit geben. Das ist gut, aber es reicht eben nicht, um die Familienpflegezeit wirklich praxistauglich auszugestalten. Es reicht vor allem nicht, um eine praxistaugliche Regelung für alle Familien, also auch für Familien mit einem niedrigen Einkommen, zu gewährleisten, aber auch nicht, um Menschen, deren nahe Verwandte weiter entfernt wohnen, tatsächlich zu unterstützen.
Ich möchte das an zwei Punkten erläutern. Die Familienpflegezeit in Anspruch zu nehmen, ist mit Gehaltseinbußen verbunden.
Statt diese aber über eine Lohnersatzleistung abzufedern, setzt die Familienministerin auf ein zinsloses Darlehen. Familien mit einem ausreichenden Einkommen brauchen das nicht; sie werden das nicht in Anspruch nehmen müssen. Vor allem Familien mit einem niedrigen oder mit einem mittleren Einkommen werden dieses Darlehen in Anspruch nehmen. Es gibt also faktisch keine finanzielle Entlastung für die pflegenden Angehörigen; die Belastung wird einfach in die Zukunft verschoben. Die Problematik verschärft sich massiv. Das erkennt man, wenn man mit in den Blick nimmt, dass der Kredit nur über zwei Jahre hinweg gewährt wird. Dabei ist die Zeitspanne, in der Angehörige ihre Familienmitglieder pflegen, oft deutlich länger. Nach zwei Jahren stehen pflegende Angehörige da, haben kein Anrecht auf Familienpflegezeit mehr; stattdessen haben sie einen Kredit an der Backe, den sie abzahlen müssen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, das ist aus meiner Sicht keine gute Perspektive.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Auch Menschen mit einem geringen Einkommen müssen eine Familienpflegezeit in Anspruch nehmen können, ohne sich zu verschulden. Deshalb plädieren wir für eine Lohnersatzleistung während der Familienpflegezeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der zweite Punkt. In Anspruch nehmen können die Familienpflegezeit – wir haben es schon gehört – nahe Angehörige. Zu denen zählen jetzt auch Stiefeltern, Personen in lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft, Schwägerinnen und Schwäger. Aber warum werden Nachbarn, Freunde, Wahlverwandtschaften vom Anspruch auf die Familienpflegezeit ausgeschlossen? Ich kann mich da Frau Reimann anschließen, die das auch problematisiert hat. Das macht in einer Zeit, in der Lebensformen vielfältiger werden und in der Wahlverwandtschaften eine immer größere Rolle spielen, überhaupt keinen Sinn.
In meiner Heimat Bonn gibt es ganz großartige Mehrgenerationenwohnprojekte, wo gemeinsames Leben aller Generationen ohne biologisch-familiäre Bezüge stattfindet, wo es eine Verantwortungsübernahme in solchen Zusammenhängen gibt. Es macht aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, dass die Verantwortungsübernahme, die Fürsorge für Menschen in solchen Konstellationen hier nicht gewürdigt wird, sondern von der Familienpflegezeit explizit ausgenommen wird. Ich hoffe, dass sich da im Gesetzgebungsverfahren noch etwas ändert. Aus der SPD-Fraktion höre ich, dass es Bereitschaft gibt, sich dahin zu bewegen. Dann kann es ja auch in der kurzen Beratungsphase noch die Möglichkeit geben, an solch wichtigen Stellen im Sinne der Familien, im Sinne von Wahlverwandtschaften, im Sinne der Verantwortungsübernahme und Fürsorge im Kontext von Pflege noch etwas zu verbessern.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächster Redner in der Debatte ist Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4112163 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 67 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf |