24.04.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 101 / Tagesordnungspunkt 25 + ZP 5

Erika SteinbachCDU/CSU - Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns heute Vormittag hier versammelt, um Anteil an dem Schicksal der Opfer des Genozids im Osmanischen Reich zu nehmen. Wir haben uns nicht versammelt, um irgendjemanden an den Pranger zu stellen. Wir wollen derer gedenken, die Opfer geworden sind, und daraus auch die Lehren ziehen.

Auf den Tag genau vor 100 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assyrern, den Chaldäern und auch den Pontosgriechen im Osmanischen Reich. Es waren alle dort ansässigen christlichen Religionsgemeinschaften davon betroffen.

„Dieses schreckliche Geschehen sollte als das bezeichnet werden, was es war: ein Genozid“, stellte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Recht fest. Und er fügte an: „Hitler hat sich später den Völkermord an den Armeniern quasi zum Vorbild für die Vernichtung der Juden genommen“.

Prophetisch hat Franz Werfel in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ die Todesmärsche als wandernde Konzentrationslager geschildert. Es kommt nicht von ungefähr, dass Peter Glotz und ich seinerzeit, vor 15 Jahren, den Menschenrechtspreis der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ nach Franz Werfel benannt haben, um damit einen Denkstein zu setzen. Der erste Preisträger im Jahr 2003 war Mihran Dabag, der Armenier, der sich mit der Genozidforschung beschäftigt hat.

Aufarbeitung und Gedenken beginnen mit der Auseinandersetzung über das Geschehene. Es ist gut, dass Künstler, Intellektuelle und Teile der türkischen Bevölkerung längst über das Stadium der stillen innerlichen Artikulation hinaus sind. Die Reflektion erfolgt öffentlich. Man setzt sich mit dem Schicksal der früheren armenischen Mitbürger auseinander und nimmt Anteil daran.

So haben im Jahr 2008 viele Menschen in der Türkei eine Erklärung veröffentlicht und das unerträgliche langjährige Schweigen durchbrochen. Das war ein wichtiger und mutiger Schritt. Denn Mut gehörte damals wie heute dazu, und diesen Mut sollten wir unterstützen. Das lässt sich schon daran ermessen, wie auch heute noch seitens der türkischen Regierung mit diesem Teil ihrer eigenen Geschichte umgegangen wird, wenn beispielsweise Botschafter nur deshalb abgerufen werden, weil eine Vokabel verwendet wurde, mit der man sich nicht auseinandersetzen möchte.

Unverständlich und für mich unbegreiflich ist die Vehemenz, mit der heute noch auch bei uns in Deutschland in Teilen von Politik und Gesellschaft gegen eine ungeschönte und unrelativierende Benennung dieses Genozids als Genozid reagiert wird. Ich kann es nicht verstehen.

In dem vorliegenden Antrag wird mit Fug und Recht die seinerzeitige viel zu große Rücksichtnahme der deutschen Reichsregierung auf den türkischen Bündnispartner im Ersten Weltkrieg angeprangert. Frau Kollegin Jelpke hat darauf hingewiesen: Karl Liebknecht war einer derjenigen, der das öffentlich angeprangert hat. Aber es gab noch jemanden, der das getan hat, und zwar der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Ganze zwei Politiker im Deutschen Reich haben sich öffentlich mit dieser Thematik auseinandergesetzt.

Angesichts der Zurückhaltung, etwas eindeutig zu benennen, das eindeutig ist, stellt sich die Frage, ob es nicht auch heute eine unangemessene Rücksichtnahme auf den NATO-Bündnispartner Türkei ist, die verhindern will, dass der Genozid im Osmanischen Reich ohne Umschweife und Verbrämung schlicht und wahrheitsgemäß Genozid genannt wird. Die vorangegangenen Diskussionen in den letzten Wochen haben das im Grunde genommen deutlich gemacht. Was ist denn die Folge daraus? Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei in den Rücken. Das kann nicht unser Anliegen sein.

Was mit dem Genozid seinerzeit verbunden war, ist für uns unvorstellbar. Es war nicht nur die Tötung einer ganzen Gruppe von Menschen; es ging mit einer unglaublichen Brutalität vor sich. Man massakrierte die Menschen. Martin Niepage, von 1913 bis 1916 Lehrer an der Deutschen Schule in Aleppo, berichtete:

Ja, es war wohl wahr: Kinder und Frauen wurden auch in die Sklaverei geschickt. Die Zerstörung und die Entweihung unzähliger Kirchen und Klöster, die Vernichtung ganzer Dörfer gehörten zu dem perfiden Plan.

Die Vertreibung geschah systematisch zur Vernichtung der Menschen. Opfer starben auf den Todesmärschen in der syrischen Wüste. Ein Beamter des deutschen Konsulats beschreibt die Lage im Juli 1916 in einem Schreiben an den Reichskanzler – die deutschen Diplomaten haben immer wieder darauf hingewiesen und gemahnt, aber es ist nichts erfolgt – wie folgt:

Er schrieb weiter, dass allein in Meskene 55 000 Armenier begraben seien.

Von mancher Seite kommt heute der Rat, die Armenier und andere Opfergruppen sollten sich auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren, statt Kraft darauf zu verwenden, die Staaten der Welt zur Anerkennung des Genozids am eigenen Volk aufzufordern. Die Frage drängt sich direkt auf, ob die Wirkung eines solchen Verbrechens an einem Volk alle Zukunftsorientierung über Generationen hinweg lahmlegt oder sie gar gänzlich nimmt.

Ich glaube, dieses Leid zu teilen, es anzuerkennen, es beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer, ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und die Zukunft besser zu bewältigen. Man braucht Solidarität von anderen, die keine Opfer waren, oder von anderen, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen.

Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Ihm zufolge ist das Gedenken eine unabdingbare Pflicht der Menschen; „… denn“, so Papst Franziskus, „wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde … offen“. Deshalb ist es gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns heute gemeinsam erinnern und an der Seite der Nachfahren der Opfer stehen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Schluss dieser Aussprache erhält der Kollege Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4966432
Wahlperiode 18
Sitzung 101
Tagesordnungspunkt Vertreibung und Massaker an Armeniern 1915/16
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