Norbert Lammert - Öffentlich geförderte Beschäftigung
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Beschäftigungslage in Deutschland zeichnet sich durch drei Dinge aus: einen hohen Beschäftigungsgrad, einen hohen Anteil an niedrig entlohnter und unsicherer Beschäftigung und einen hohen Anteil dauerhaft erwerbsloser Menschen. Trotz der sogenannten Hartz-IV-Reformen und der derzeit guten Konjunkturlage stagniert die Zahl der Menschen, die länger als ein Jahr erwerbslos sind, seit 2011 bei über 1 Million.
Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dieser Zahl verbergen sich individuelle Biografien von Menschen, die über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen, dass sie in der Arbeitswelt nicht gebraucht werden, dass ihr Beitrag zum Wohlstand nicht benötigt wird. Das ist eine erniedrigende Erfahrung. Ich denke, darüber sind wir uns in diesem Haus alle einig. Ich gehe auch davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass wir deshalb mehr für diese Menschen tun müssen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Es mehren sich auch schon seit längerem die Stimmen, nicht nur in der Linken, die Zweifel an der Agenda 2010 äußern; denn, sehr geehrte Damen und Herren, es ist vollkommen richtig, dass nicht mehr Menschen deshalb eine Arbeit finden, weil man sie mit Leistungskürzungen zwingt, miese Jobs anzunehmen. Umgekehrt ist es ja wohl so, dass die Reformen mit schlecht bezahlter Arbeit gut bezahlte Arbeit verdrängt haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Was also tun, wenn der einstige Heilsweg sich als Holzweg erweist?
In den 90er-Jahren hatte sich die richtige Erkenntnis durchgesetzt, dass die Arbeitsmarktpolitik die kontinuierliche Anpassung der beruflichen Qualifikationen an die sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt unterstützen muss. Zum Glück wurde mit Hartz IV diese aktive Arbeitsmarktpolitik nicht ganz aufgegeben, auch wenn ich hinzufügen muss, dass mit Hartz IV das Fordern eindeutig die Oberhand über das Fördern gewonnen hat.
Dabei ist es erwiesen, dass die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, also berufliche Qualifizierung, Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen usw., in einer bestimmten Situation von Nutzen sein können. Wir wissen, dass davon vor allem diejenigen profitieren, die noch nicht lange erwerbslos sind oder unmittelbar von der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Deshalb sollten wir an diesen Instrumenten festhalten.
Aber wir müssen uns auch fragen: Was tun wir für diejenigen, die schon seit Jahren raus sind aus dem Job? Viele von ihnen haben Hunderte Bewerbungen geschrieben, haben sich weitergebildet oder umschulen lassen. Sie haben Bewerbungstrainings mitgemacht, haben sich in 1-Euro-Jobs verdingt, haben als Leiharbeiter gejobbt oder für ein, zwei Jahre in einem Beschäftigungsprojekt gearbeitet. Was sagen wir diesen Menschen? Erzählen wir ihnen weiterhin, dass nur die zweite Beschäftigungsmaßnahme, die dritte Schulung oder das vierte Bewerbungstraining durchlaufen werden muss und dann ganz bestimmt ein fester Arbeitsplatz da sein wird? Ich bitte Sie! Das kann nicht unser Ernst sein. Diese Menschen wissen ganz genau, genauso gut wie wir hier, dass ihnen eine weitere Maßnahme nichts nützen wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist gut gemeint, wenn es heißt, dass die Arbeitsmarktpolitik den Menschen eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt bauen soll. Aber in den Ohren derjenigen, die schon über viele dieser Brücken gegangen sind, ohne dass am anderen Ende ein Arbeitsplatz gestanden hat, sind das leere Worte. Ich sage Ihnen: Die Menschen haben damit recht. Sie haben recht, wenn sie sagen, dass sie einen anständigen Arbeitsplatz wollen, an dem sie zeigen können, was in ihnen steckt, an dem sie Bestätigung erfahren und wo ihre Leistung wertgeschätzt wird.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn es diese Arbeitsplätze weder in Unternehmen noch im öffentlichen Dienst gibt, dann sind wir dazu verpflichtet, anderswo ordentliche Arbeitsplätze zu schaffen.
(Beifall bei der LINKEN)
Manche mögen jetzt einwenden, dass das bereits geschieht. Richtig: Wir haben Bürgerarbeit, wir haben 1-Euro-Jobs. Aber ist das gute Arbeit? Sind das die Arbeitsplätze, die die Menschen brauchen? Von einem guten Arbeitsplatz erwarten die Menschen zu Recht, dass er anständig entlohnt ist, dass er voll sozialversicherungspflichtig ist, dass er auf Freiwilligkeit beruht und die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung bietet. All das bieten die diversen Modelle von Bürgerarbeit gerade nicht. Auch das neue Programm von Arbeitsministerin Nahles für 10 000 geförderte Arbeitsplätze, das wir grundsätzlich begrüßen, erfüllt diese Anforderungen leider nicht. Die zentrale Schwachstelle dieser Programme ist, dass sie denjenigen Menschen, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, keine dauerhafte Beschäftigungsperspektive bieten. Mit Beginn ihrer Beschäftigung kennen die Menschen schon das Datum, an dem sie wieder mit Hartz IV auf der Straße stehen werden. Das ist keine Perspektive.
(Beifall bei der LINKEN)
So sieht das im Übrigen auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise. Er sagte: „Wir müssen feststellen, dass für diese Menschen kein Angebot da ist.“ Eine wirkliche Perspektive – auch das hat Herr Weise in dieser Woche gesagt – besteht darin, öffentlich geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, die prinzipiell auch von Dauer sein können. Genau dieser Aufgabe stellen wir uns in Thüringen.
Ich möchte dabei eines klarstellen: Mir geht es nicht darum, Leistungen für Ausbildung, Qualifizierungen, Praktika usw. zurückzufahren. Das ist aber in den letzten Jahren im Bund geschehen, was ich ausdrücklich kritisiere. Wir müssen beides tun: die Vermittlung stärken und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die anderweitig keine realistische Chance auf einen Job haben. Das sind nicht wenige Menschen. Nach Auffassung der Bundesagentur für Arbeit hat von den 1 Million Langzeitarbeitslosen in Deutschland nur rund die Hälfte mithilfe von Qualifizierungs- und Schulungsangeboten eine Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu bekommen. Weitere 300 000 Langzeitarbeitslose bedürften Trainingsmaßnahmen und sind damit vielleicht auf mittlere Frist in eine Stelle zu vermitteln. Weitere 200 000 Menschen haben keinerlei Chance auf dem Arbeitsmarkt, darunter viele Ältere und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. In Thüringen sind das 20 000 Menschen. Sie beziehen seit 2005 durchgängig Hartz IV.
Dennoch haben viele dieser Menschen immer noch den starken Wunsch, sich über Arbeit in die Gesellschaft einzubringen. Das zeigt die große Nachfrage, die bereits die Ankündigung unseres geplanten Beschäftigungsprogramms für Langzeitarbeitslose ausgelöst hat. Wir müssen feststellen, dass unter denjenigen, die nachfragen, vor allem ältere Menschen sind, deren sogenanntes Vermittlungshemmnis einzig und allein ihr Alter ist. Wer mit 56 oder 57 Jahren erst einmal ein Jahr oder länger raus aus dem Job ist, dem helfen keine Qualifizierungsmaßnahmen. Kommen dann vielleicht noch gesundheitliche Probleme dazu – zum Beispiel der kaputte Rücken bei einem Handwerker oder einer Krankenschwester –, dann finden diese Menschen schlicht und einfach keinen Arbeitsplatz mehr, selbst dann nicht, wenn sie hochmotiviert und leistungsbereit sind. Diesen Menschen sollten wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung eine Chance geben, sich produktiv einzubringen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Gesellschaft würde davon profitieren.
Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Das ist keine Beschäftigungstherapie, sondern das sind produktive Tätigkeiten, die erfüllt werden können, die unserem Gemeinwohl dienen. In diesem Sinne haben wir in Thüringen vor zwei Tagen gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit ein Programm für gemeinwohlorientierte Beschäftigungsförderung auf den Weg gebracht. In diesem Jahr fördern wir gemeinsam mit der Bundesagentur 500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei Kommunen, Vereinen, Kirchen, Umweltinitiativen und dergleichen. In den kommenden Jahren wollen wir die Zahl erhöhen. Der Bruttolohn liegt bei 1 100 Euro, und die Beschäftigungsdauer beträgt bis zu drei Jahre.
Jetzt werden Sie sagen: Das ist nicht der große Wurf, und es entspricht auch nicht eins zu eins dem Antrag, den die Linke heute eingebracht hat. – Da kann ich nur antworten: Sie haben recht. Wir würden gern mehr Arbeitsplätze fördern, mit höheren Löhnen und längerer Laufzeit. Dazu braucht es aber Partner. Das gilt für Thüringen wie für jedes andere Bundesland. Wir haben in Thüringen das Glück, mit der Bundesagentur für Arbeit einen Partner zu haben, der unsere Sicht teilt. Es ist besser, für diejenigen, die keine Chance mehr auf eine Stelle haben, Arbeit zu finanzieren, als sie mit Hartz IV nach Hause zu schicken.
(Beifall bei der LINKEN)
Warum also nicht passive Leistungen aktiv in Löhne umwandeln? Ohne den Bund – das wissen wir alle ganz genau – kann kein Bundesland auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft und substanziell etwas bewegen. Darum hatten wir uns über das positive Signal aus dem Bundesarbeitsministerium im Hinblick auf einen Passiv-Aktiv-Transfer gefreut. Jetzt heißt es leider: Finanzminister Schäuble zieht nicht mit. Und in der Tat: Es ist so. Frau Kipping hat im Finanzministerium nachgefragt und bekam eine entsprechende Antwort.
Nach Auffassung des Staatssekretärs Kampeter lassen sich das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft nicht in Lohnkostenzuschüsse umwandeln, weil – ich zitiere – „eine belastbare Einschätzung über das Realisieren der Einsparungen durch Wegfall dieser Leistungen bei ausgewählten Leistungsempfängern nicht möglich ist“.
Zwei Dinge an dieser Antwort sind bemerkenswert: erstens die Auffassung des Finanzministeriums, bei der Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne gehe es um Einsparungen. Nein, meine Damen und Herren, es geht um Investitionen. Indem wir Löhne statt Hartz IV auszahlen, schaffen wir Arbeitsplätze.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Mit der Arbeit in Vereinen, in Kirchengemeinden und in Kommunen schaffen diese Menschen Werte, die der Gesellschaft zugutekommen. Es wäre schön, wenn das Bundesfinanzministerium einmal zur Kenntnis nehmen würde, dass Arbeit im Gemeinwohlbereich echte Wertschöpfung ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens. In der Antwort – dieser Aspekt der Antwort ist beachtlich – heißt es sinngemäß, es sei recht kompliziert, die haushalterischen Auswirkungen der Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne zu bestimmen. Darauf kann ich nur antworten: Sie machen es sich ein bisschen einfach. Meine Damen und Herren, wir reden hier darüber, Zehntausenden Menschen eine für sie und die Gesellschaft sinnvolle Alternative zur Arbeitslosigkeit zu erschließen. Und der Finanzminister lässt mitteilen, es sei ihm zu aufwendig, die notwendigen Berechnungen anzustellen.
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!)
Sehr verehrte Damen und Herren, Ihnen liegt der Antrag der Linken vor, der die Grundzüge eines Programms für öffentliche Beschäftigung enthält. Darin machen wir einen konkreten Vorschlag, wie Hartz-IV-Leistungen in Lohnleistungen umgewandelt werden können. Dazu müssten nicht einmal die Gesetze geändert werden. Mit einem Haushaltsvermerk über die gegenseitige Deckungsfähigkeit der verschiedenen Titel der Arbeitsmarktpolitik wäre es möglich, dass das bei den passiven Leistungen nicht ausgegebene Geld für aktive Leistungen – also die Bezahlung von Arbeit – verwendet werden kann.
(Beifall bei der LINKEN)
Die öffentlich geförderte Beschäftigung gemeinwohlorientierter Arbeit ist eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Die Kommunen könnten davon profitieren, zum einen durch die eingesparten Kosten der Unterkunft, zum anderen durch die Unterstützung ihrer sozialen Infrastruktur. Sie profitieren auch, weil Kosten gespart werden, die durch die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit entstehen.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich, dem Antrag der Linken zuzustimmen; denn gemeinwohlorientierte Arbeit über einen Passiv-Aktiv- Transfer ist für einen Teil der Langzeitarbeitslosen der einzige Weg in Beschäftigung. Die soziale Infrastruktur wird durch die erbrachte Arbeitsleistung gestärkt, was uns allen zugutekommt. Schließlich werden die öffentlichen Haushalte nachhaltig von den Folgekosten der Langzeitarbeitslosigkeit entlastet. Es wäre also in unser aller Interesse, wenn sich die Union dieser Einsicht nicht länger verschließen würde.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4968367 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 101 |
Tagesordnungspunkt | Öffentlich geförderte Beschäftigung |