17.06.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 111 / Tagesordnungspunkt 4

Thomas JurkSPD - 17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unter meinen Zuhörern wird es wohl nur wenige geben, die die Gemeinde Krauschwitz in der Oberlausitz kennen. Sie liegt nur etwa 2 Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Dort fuhren am 17. Juni 1953 vor den Toren der Keulahütte, einer Eisengießerei, sowjetische Panzer auf, um gegen demonstrierende Arbeiter den Ausnahmezustand durchzusetzen. Das zeigt, wie breit und umfassend der Aufstand und das Aufbegehren am 17. Juni 1953 tatsächlich waren. Es waren eben nicht nur die großen Zentren wie Berlin, Leipzig oder Dresden, in denen die Menschen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen. Es gab eben auch Görlitz, Niesky oder Krauschwitz.

In Görlitz und Niesky wird heute, beinahe zeitgleich, traditionell der Ereignisse des 17. Juni 1953 gedacht. In beiden Städten schien der Volksaufstand am aussichtsreichsten zu verlaufen. In Niesky wurde die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit besetzt, und in Görlitz hatten die Aufständischen gar komplett die Macht übernommen. Sie bildeten für eine provisorische Verwaltung ein Stadtkomitee, das umgehend die Amtsgeschäfte aufnahm, und der alte Sozialdemokrat Max Latt verkündete die Einsetzung eines Initiativkomitees zur Wiedergründung der SPD. Erst als Sowjetarmee und kasernierte Volkspolizei von außerhalb in der Stadt eintrafen, wurde der wohl erfolgreichste Aufstand jenes 17. Juni niedergeschlagen.

Sie werden sich fragen, woher ich, der erst neun Jahre später geboren wurde, so etwas wissen kann. Die Antwort ist ganz einfach: von meinem Vater. Über den 17. Juni wurde in meiner Familie vor 1990 häufig gesprochen. Dabei meinten meine Eltern manches Mal: Wenn das am 17. Juni geklappt hätte! – Ja, die Menschen wollten schon damals ein besseres Leben, Freiheit und Demokratie. Dafür sind sie auf die Straße gegangen, befreiten politische Häftlinge und entmachteten die Funktionäre der verhassten Staatsmacht.

Den 17. Juni 1953 nicht selbst erlebt zu haben, ist ein Schicksal, das ich mit immer mehr Menschen teile. Umso wichtiger ist die Bewahrung der Geschichte des 17. Juni 1953, auch der Tage davor und der Tage danach.

(Beifall im ganzen Hause)

Bewahrung setzt aber unverfälschte Geschichtsschreibung voraus. Deshalb will ich daran erinnern, dass der 17. Juni 1953 in der Geschichtsschreibung der DDR als faschistischer Putsch, gesteuert aus dem Westen, diffamiert wurde. Die DDR-Führungskaste hätte unter keinen Umständen zugegeben, dass es ausgerechnet die Arbeiter waren, die sich gegen den sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat erhoben hatten. So wurden besonders jene Menschen verunglimpft, die Demonstrationszüge anführten oder auf Kundgebungen das Wort ergriffen. Diese Menschen bezahlten einen hohen Preis. Wem nicht rechtzeitig die Flucht in den Westen gelang, der wurde zu drakonischen Strafen verurteilt oder büßte gar mit dem Leben. Jene Schicksale, jene Ereignisse, jene Konsequenzen müssen in unserer Erinnerung weiterleben. Dabei bleiben die Schilderungen von Zeitzeugen unverzichtbar.

(Beifall im ganzen Hause)

Heute können wir die ganze Geschichte neu ins Blickfeld nehmen, zurück bis 1945 und vorwärts bis zur friedlichen Revolution von 1989. Diese Geschichte ist eine Geschichte des permanenten Wechselspiels von Hoffnungen und Enttäuschungen. Das gilt insbesondere für das Jahr 1953 selbst. Denn mit dem Tod Stalins am 5. März 1953 verbanden sich Hoffnungen, Hoffnungen auf ein Nachlassen des innenpolitischen Terrors gegen Andersdenkende und eine bessere Wirtschaftspolitik. Tatsächlich wurden diese Hoffnungen dann enttäuscht. Im April 1953 wurde beschlossen, ganzen Bevölkerungsgruppen keine Lebensmittelkarten mehr zu geben und die ohnehin horrenden HO-Preise für Lebensmittel zu erhöhen. Die schon vorher prekäre Versorgungslage verschlechterte sich weiter. Auch die Ermäßigungen für die Arbeiterfahrkarten wurden gestrichen. Gleichzeitig wurden die Produktionsnormen erhöht, was zu deutlichen Lohneinbußen führte. Gerade deshalb ging der Aufstand von den besonders stark betroffenen Arbeitern aus.

Wenn ich eingangs von sowjetischen Panzern sprach, so waren es letztendlich diese, die den Volksaufstand zunichtemachten. Die Führung der Sowjetunion hatte auch nach dem Tode Stalins nicht die Absicht, die Einwohner der DDR in die Freiheit oder gar in die Einheit zu entlassen. Dass der „große Bruder“ mit eiserner Faust 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei alle Demokratiebewegungen noch blutiger niederwalzte, macht deutlich, wie wichtig für die friedliche Revolution des Herbstes 1989 die politischen Veränderungen unter Michail Gorbatschow in der ehemaligen Sowjetunion waren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Für die SPD war der 17. Juni immer ein besonderes Datum; denn der Aufstand war für uns Sozialdemokraten zuallererst ein Arbeiteraufstand. So ist es kein Wunder, dass die Westdeutschen den Feiertag am 17. Juni einem Sozialdemokraten zu verdanken hatten: Herbert Wehner, dem aus Sachsen stammenden damaligen Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen. Er war es, der den Namen „Tag der Deutschen Einheit“ vorschlug und mit der SPD-Bundestagsfraktion bei einer Abstimmung am 3. Juli 1953 im Bundestag durchsetzte, sodass der 17. Juni zum Nationalfeiertag wurde.

Die damaligen Ereignisse sind für mich auch eine Ermutigung für eine Politik des langen Atems. In einer Zeit, in der mitunter eine Politik der Kurzatmigkeit herrscht, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Politik mehr ist als eine Anhäufung von Projekten, Kampagnen und Gesetzgebungsvorhaben. Das Erreichen der großen Ziele und die Lösung von grundlegenden Menschheitsfragen brauchten manchmal Generationen. Rückschläge wie der, den die Menschen 1953 erlebten, waren nicht das letzte Wort der Geschichte. Wie glücklich dürfen wir auch heute noch über die Wiedererlangung der Einheit Deutschlands sein.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Der 17. Juni 1953 bleibt ein herausragendes Datum der deutschen Geschichte, ein Tag zum Erinnern, ein Tag zum Gedenken und ein Tag zum Nachdenken. Was für mich in besonderer Weise bleiben wird, ist die Bewunderung für die Menschen jener Zeit. Sie haben damals den Beweis erbracht, dass Zivilcourage auch in Zeiten größter Entbehrungen und Gefahren möglich ist.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/5261521
Wahlperiode 18
Sitzung 111
Tagesordnungspunkt 17. Juni 1953 - Für Freiheit, Recht und Einheit
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta