25.11.2015 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 139 / Tagesordnungspunkt I.9

Anton HofreiterDIE GRÜNEN - Einzelplan Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind tief erschüttert von den Pariser Terroranschlägen. Wir sind fassungslos über die Brutalität und die Grausamkeit, mit der so viele Menschen ermordet wurden. Ich schließe mich meinen Vorrednern an, und auch ich sage für meine Fraktion: Wir stehen zu den Menschen in Paris. Wir stehen auch zu den Menschen in Beirut und Bamako. Wir stehen zu den Menschen in Tunis. Und wir gedenken auch der Opfer der abgeschossenen russischen Zivilmaschine. All jene, die in den letzten Tagen durch Terroristen ermordet wurden, sind unschuldige Menschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Wieder einmal müssen wir uns fragen: „Wie antworten wir auf den Terror?“ – eine Frage, die wir uns in den letzten Jahren zu oft stellen mussten: nach dem 11. September, nach den Anschlägen von Madrid und London. Diese Serie ließe sich fortsetzen.

Was wir in diesen Tagen in Brüssel sehen, ist bedrückend. Wenn es den Terroristen gelingt, die westlichen Metropolen dauerhaft in Angst und Schrecken zu versetzen, in Misstrauen und gegenseitigen Hass, dann haben sie eines ihrer zentralen Ziele erreicht und haben fast gewonnen. Der Ausnahmezustand von Paris und Brüssel darf daher nicht zum Normalfall werden. Wir dürfen uns von den Terroristen nicht einschüchtern lassen! Wir dürfen uns unsere Freiheit und unser Leben nicht wegnehmen lassen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Auch wenn es sicher schwerfällt: Wir müssen besonnen, durchdacht und mit kühlem Kopf handeln, statt hysterisch und reflexhaft.

Leider ein trauriges Musterbeispiel für eine dumme und falsche Reaktion hat wieder einmal die CSU geliefert. Herrn Söder fällt keine 24 Stunden nach dem Terroranschlag ein, man solle jetzt sofort die Grenzen schließen für die Menschen, die vor genau dieser Art von Terror fliehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, so etwas ist beschämend, und Sie sollten sich ganz schnell einmal überlegen, wie Sie diesem Herrn Anstand beibringen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben sie viel zu tun!)

Viele haben in den Tagen nach dem Anschlag in Paris von Krieg gesprochen. Es ist sicher verständlich, wenn man auf diesen Begriff kommt. Aber wir sollten uns fragen, ob die Rhetorik des Krieges angemessen und klug ist. Wer bei Terror von Krieg redet, gerät in eine Logik, die mehr vernebelt als klärt. Die Kriegslogik führt zu falschen Fronten. ISIS führt sicher Krieg, aber dieser Krieg findet in Syrien und im Irak statt. Die Hauptleidtragenden des islamistischen Terrors sind die Menschen in diesen Ländern. Zehntausende von ihnen sind ihm zum Opfer gefallen. Auch ihnen sind wir Solidarität und Hilfe schuldig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])

Der Kriegslogik folgt der sogenannte War on Terror seit 14 Jahren. Klar: ISIS muss auch militärisch bekämpft werden. Aber: Was ist denn die Bilanz des sogenannten War on Terror seit 14 Jahren? Wenn ich auf die Bilanz dieser 14 Jahre Terrorbekämpfung schaue, dann ist diese Bilanz wirklich ernüchternd. Die Lage ist in den vergangenen 14 Jahren doch nicht besser geworden. Al‑Qaida ist in Teilen geschwächt, aber dafür sind andere terroristische Organisationen wie IS und Boko Haram deutlich gestärkt. Tausende junger Menschen sind aus Europa nach Syrien und in den Irak gegangen, um dort als Terroristen zu kämpfen und zu morden. Es herrscht in mehr Ländern Krieg und Bürgerkrieg. Wir haben doch die Begrenztheit militärischer Mittel in Afghanistan erlebt. Wir haben ihre ungewollten und katastrophalen Konsequenzen im Irak gesehen. Wir sehen, wenn man an den Drohnenkrieg denkt, die destabilisierende Wirkung des Drohnenkrieges in Pakistan. Deshalb: Besonnenheit, kühler Kopf und kluge Analyse sind das Gebot der Stunde und nicht, die alten Fehler seit 14 Jahren zu wiederholen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es braucht eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung des IS. Es ist richtig, dass gegen IS militärisch gekämpft werden muss. Aber es ist auch klar, dass er am Ende nur politisch besiegt werden kann. Der Abschuss des russischen Kampfflugzeuges durch türkische Kampfflugzeuge hat diesen Bemühungen einen schweren Rückschlag zugefügt. Aber wir müssen uns bemühen und dafür sorgen und alles daransetzen, dass es bei den Gesprächen in Wien zu einer internationalen Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS kommt: zwischen den regionalen und den internationalen Kräften, zwischen Iran und der Türkei, zwischen den USA und Russland. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es gelingt, dass ein Waffenstillstand erzielt wird zwischen den Überresten des Baath-Regimes, den Überresten der gemäßigten Rebellen und der syrischen Kurden, damit eine Chance besteht, dass dieser Kampf auch erfolgreich ist. Den Terror und ISIS zu bekämpfen, ist die eine Sache; aber sie erfolgreich zu bekämpfen, ist die andere Sache. Dafür braucht es eine politische Einigung.

Dafür braucht es auch eine Lösung für das Problem Assad. Eines sollten wir auch nie vergessen: Assad ist die Quelle der Ursache. Ein Großteil der in Syrien ermordeten Menschen ist von Assad ermordet worden. Deshalb müssen wir uns überlegen: Wie kann es gelingen, Assad da herauszunehmen, eine Regierung der nationalen Einheit in Syrien zu schaffen und dann, nach der politischen Einigung, einen gemeinsamen, von der UN getragenen Kampf gegen ISIS zu organisieren, damit man nicht nur militärisch agiert, sondern auch erfolgreich?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Besonnenheit und kluge Analyse bedeuten natürlich nicht Untätigkeit. „ Krieg“ ist für das, was wir in Europa haben, in meinen Augen der falscheste Begriff. Es geht darum, den Terror zu bekämpfen. Wir müssen natürlich für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sorgen. Aber auch hier heißt das, nach klarer Analyse vorzugehen. Nach dem 11. September wurde schon einmal im Namen des Krieges die Freiheit unverhältnismäßig eingeschränkt. Mit welchem Ergebnis? Überall in Europa entfalteten die Geheimdienste ein Eigenleben. Wir konnten erleben, wie Geheimdienste aus Europa die US-amerikanischen Geheimdienste bei Entführungen, bei Folter unterstützt haben. Guantánamo und Abu Ghuraib sind die symbolhaften Namen für diese Fehlentwicklung. Aber es gab nicht nur schwere Menschenrechtsverletzungen, sondern es war auch noch massiv kontraproduktiv. Die Bilder von Abu Ghuraib haben mehr Terroristen produziert als viele andere Maßnahmen. Deshalb dürfen wir diese Fehler nicht wiederholen, erstens wegen der Menschenrechte und zweitens wegen der kontraproduktiven Wirkung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beim Kampf gegen den Terror brauchen wir echte Politik, brauchen wir Maßnahmen, die wirken, und nicht reine Symbolpolitik. Wir brauchen deshalb eine gut ausgestattete Polizei, die ausreichend Personal und Mittel hat. Wir brauchen nicht wieder den reflexhaften Ruf nach einem Einsatz der Bundeswehr im Innern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundeswehr kann vieles gut, aber sie ist nicht dafür ausgebildet, Terror im Innern zu bekämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen natürlich eine Überwachung der Terrorverdächtigen. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit der Polizei über die Grenzen hinweg. Aber die totale Überwachung durch die Geheimdienste kann doch nicht die Antwort sein. Ich kann nicht erkennen, dass das irgendein Beitrag zur Terrorbekämpfung ist, wenn der BND den französischen Außenminister oder die europäischen Botschaften überwacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Wenn wir unserem Inlandsgeheimdienst gestatten, alle hier im Saal, alle Bürger zu überwachen, dann bekommen wir sicherlich einen gigantischen Datenwust, mit dem am Ende nicht mehr viel anzufangen ist; aber es ist ganz sicher kein Beitrag zur Bekämpfung des Terrors. Man muss fokussieren und die Polizei so ausstatten, dass sie in der Lage ist, die Terrorverdächtigen zu überwachen – nicht uns alle hier im Saal oder alle Bürger in diesem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das macht doch niemand, es sei denn, Sie wollen einen Terroranschlag machen!)

Was wir im Kampf gegen den Terror allerdings vor allem brauchen, ist die Prävention. Wie kann es sein, dass junge Menschen, die hier bei uns aufgewachsen sind, sich solchen menschenverachtenden Ideologien anschließen und in den Dschihad ziehen? Darauf gibt es sicherlich keine einfache und keine schnelle Antwort. Integrationsarbeit, Bildungsarbeit, Jugendarbeit, Sozialarbeit bilden den wichtigsten Teil der Prävention von Terror. Wir müssen unseren jungen Menschen Chancen bieten. Natürlich müssen wir auch den radikalen Hasspredigern das Handwerk legen. Da haben wir auch in Deutschland einen massiven Nachholbedarf. Selbst der BKA-Präsident sagt uns: Die wichtigste Maßnahme im Kampf gegen den Terror ist, dafür zu sorgen, dass sich junge Menschen deradikalisieren bzw. erst gar nicht radikalisieren; denn wenn die Zahl der Gefährder so hoch bleibt, dann können wir gar nicht genug Polizisten einstellen, um sie alle zu überwachen. Deshalb ist gute Sozialpolitik harte, echte und wichtige Sicherheitspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen keine Scheinpolitik und keine Symbolpolitik, sondern Politik mit Weitsicht. Eine Politik, die vorsagt, die über den Tag hinaus denkt – das wäre heute notwendig. Aber wenn ich mir anschaue, was Sie machen, wie Sie mit der fundamentalen Klimakrise, den großen Flucht- und Migrationsbewegungen, der großen Investitionslücke, die wir schließen müssen, damit unsere Gesellschaft eine Zukunft hat, und mit der Zunahme rechtspopulistischer Umtriebe umgehen, dann stelle ich mir die Frage: Was macht eigentlich diese Regierung?

Wir wissen doch: Wenn eine Regierung handlungsunfähig und zerstritten wirkt, dann erhalten rechtsextreme und rechtspopulistische Organisationen Zulauf.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Ich nehme an, Sie wissen das auch, Herr Kauder

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das habe ich schon mehrfach gesagt!)

und Herr Oppermann, Herr de Maizière und Herr ­Altmaier, Herr Gabriel und Frau Merkel. Aber was für ein Schauspiel bietet uns die Große Koalition?

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ein großes!)

Da ignoriert der Innenminister de Maizière, was die Bundeskanzlerin und der Kanzleramtsminister Altmaier vorgeben, und arbeitet auf eigene Rechnung. Da redet der CSU-Vorsitzende von Notwehr gegenüber der eigenen Bundesregierung. Da vergleicht ein Finanzminister schutzsuchende Menschen mit Naturkatastrophen und denunziert die Kanzlerin als die Auslöserin des Ganzen. Da taumelt ein Vizekanzler auf der Suche nach Schlagzeilen zwischen Pegida-Besuch und „Pack“-Beschimpfung, zwischen Menschenrechten und Abschottung, bis den SPD-Beobachtern nur noch das Grausen kommt. Da stellt sich ein Ministerpräsident von der CSU hin und maßregelt die Bundeskanzlerin auf offener Bühne, als wenn sie ein Schulmädchen wäre, und dann hat er noch nicht einmal die Größe, sich bei ihr zu entschuldigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun könnte man sich als Opposition darüber freuen, dass man es mit so einer zerstrittenen, so einer armseligen und so einer handlungsunfähigen Regierung zu tun hat. Aber dafür sind die Probleme wirklich zu ernst.

(Johannes Kahrs [SPD]: Na, die Opposition ist auch nicht gerade toll!)

Die Probleme sind wirklich zu groß, als dass wir uns eine zerstrittene Regierung leisten können. Deshalb: Reißen Sie sich endlich zusammen! Machen Sie Schluss mit diesem Theater!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Unser Land hat wirklich große Aufgaben vor sich. Wir müssen die vielen Schutzsuchenden bei uns integrieren, und wir müssen unverzüglich damit anfangen. Ja, Frau Merkel, wir schaffen das. Aber es muss auch geklärt werden, wie wir das schaffen, und dazu braucht es nicht nur Anregungen der Opposition, sondern dazu braucht es auch Beschlüsse der Bundesregierung. Deshalb kann ich nur sagen: Stimmen Sie unseren Anträgen zum Haushalt zu. Wie wäre es denn mit 600 Millionen Euro mehr für Integrationskurse, wie wir sie beantragen und gegenfinanzieren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie wäre es denn mit 350 Millionen Euro mehr für die Jobcenter, wie wir sie beantragen und gegenfinanzieren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Oder wie wäre es mit einem 2-Milliarden-Paket für den sozialen Wohnungsbau – der sowieso dringend notwendig ist –, wie wir es beantragen und gegenfinanzieren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben doch selbst gesagt: Die Randbedingungen sind gut, die Zinsen sind so niedrig wie nie, und unsere Steuereinnahmen sind entsprechend gut. – Ja, darüber kann man sich freuen, aber man muss auch etwas daraus machen. Man darf keinen Haushalt vorlegen, der keinen Mut hat, kein Herz und keinen Plan. Machen Sie endlich was, und reden Sie nicht bloß!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – ­Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das war jetzt aber sehr allgemein!)

Frau Merkel, ich gebe gerne zu: Ich freue mich wirklich – und wir werden oft dafür getadelt, dass wir Frau Merkel zu sehr loben –, dass Sie dem Sperrfeuer aus Ihren eigenen Reihen bisher standgehalten haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber wenn Sie es zulassen, dass die jüngsten Planungen für ein neues Asylgesetz umgesetzt werden – geplant sind Schnellverfahren, die quasi jeden Flüchtling treffen können, eine Aussetzung des Familiennachzugs, Abschiebung auch schwerkranker Flüchtlinge –, dann, Frau Merkel, zeigt Deutschland leider kein freundliches Gesicht mehr, sondern dann zeigt es eine hässliche Fratze. Überlegen Sie sich das also noch einmal gut, und verhindern Sie das.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Überlegen wir uns doch einmal, was das Aussetzen des Familiennachzugs perspektivisch bedeutet:

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht gar nicht!)

Das Aussetzen des Familiennachzugs bedeutet perspektivisch, dass sich Frauen und Kinder auf den gefährlichen Weg machen, vielleicht über das Mittelmeer, und ein Teil von ihnen unter Umständen ertrinkt. Wollen wir das verantworten? Ich will das nicht verantworten. Ich glaube, das kann man auch nicht verantworten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie behaupten doch immer, dass Ihnen die Familie wichtig ist. Das kann doch nicht nur für deutsche Familien gelten. Artikel 6 Grundgesetz gilt für alle Familien. Geben Sie sich einen Ruck, seien Sie anständig, und sorgen Sie dafür, dass Frauen und Kinder nicht auf den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer gezwungen werden. Das kann nicht deutsche Politik sein. Das darf nicht deutsche Politik sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Während die Regierung gelähmt zu sein scheint, der Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator auf der einen Seite und der Innenminister auf der anderen Seite gegeneinander arbeiten, schuften draußen im Lande Unmengen Menschen. Ich muss sagen: Ich bin den Ehrenamtlichen wirklich sehr dankbar für all das, was sie leisten,

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir auch!)

und ich bin auch den Hauptamtlichen sehr dankbar für all das, was sie leisten; denn sie beweisen jeden Tag all denen, die das Kippen der Stimmung herbeireden wollen, die herbeireden wollen, dass wir das nicht schaffen: Doch, wir schaffen das; wir können das, und wir packen das.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist häufig von der Bekämpfung von Fluchtursachen die Rede. Es fliehen Menschen aus vielen Ländern. Wir haben Probleme mit dem islamistischen Terror in vielen Ländern und Bürgerkriege in vielen Ländern. Schauen wir uns Mali an, wo die Bundeswehr bereits im Einsatz ist. Man muss klar sagen: Die Bundeswehr gibt sich sehr viel Mühe. Wir unterstützen diese Einsätze. Ich danke den Soldaten dafür, dass sie diese schwierige und zum Teil auch sehr gefährliche Aufgabe wahrnehmen. Es gibt auch eine ganze Reihe ziviler und ehrenamtlicher Helfer, die diesem Land auf die Beine helfen wollen. Ich war vor kurzem in Mali und habe mir das angeschaut. In Mali läuft vieles richtig. Was in Mali aber nicht in Gang kommt, ist die einheimische Wirtschaft. Eines der Hauptprodukte von Mali ist Baumwolle. Des Weiteren werden dort andere landwirtschaftliche Produkte produziert.

Jetzt ist es so, dass die Baumwolle und die landwirtschaftlichen Produkte Malis nicht konkurrenzfähig sind. Warum sind sie nicht konkurrenzfähig? Dafür, dass die Baumwolle Malis nicht konkurrenzfähig ist, sind nicht wir verantwortlich. Dafür ist nicht Europa verantwortlich, sondern dafür sind die USA verantwortlich. Die USA haben in den vergangenen 20 Jahren 30 Milliarden US-Dollar an ihre Baumwollfarmer bezahlt. Dass die anderen landwirtschaftlichen Produkte Malis nicht konkurrenzfähig sind, das liegt an uns, an Europa. Wir zahlen 50 Milliarden Euro Subventionen, und mit unseren subventionierten Lebensmitteln, wovon ein erheblicher Anteil exportiert wird, machen wir die Wirtschaft in Ländern wie Mali kaputt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – ­Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ist leider was dran!)

Wenn wir in vielleicht 10 oder 15 Jahren hier stehen und darüber sprechen, warum der Einsatz in Mali schiefgegangen ist – das kann hoffentlich verhindert werden –, warum es nicht gelungen ist, dieses Land zu stabilisieren und zu wirtschaftlichem Wohlstand zu führen, obwohl wir doch einen Bundeswehreinsatz hatten, obwohl wir diesen Bundeswehreinsatz ausgeweitet haben, obwohl wir viel Entwicklungshilfe gezahlt haben, obwohl wir uns doch alle Mühe gegeben haben, dann könnte man bei folgender Ursache landen: Weil man sich nicht an die Subventionen für die industrielle Landwirtschaft bei uns und in den USA herangetraut hat. – Das ist schlichtweg ein Problem. Man muss die Probleme halt an den Ursachen anpacken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])

Wenn es in einem Land keine ökonomische Entwicklung gibt, dann kann das daran liegen, dass wir die ökonomische Entwicklung in diesem Land mit subventionierten Produkten kaputtmachen. Da können Sie von der CSU lachen und schreien; das macht es nicht besser. Es sollte doch in unserem Interesse sein, dass es diesem Land besser geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Schauen Sie sich doch einfach einmal die Tatsachen an.

Dass Sie dieses Problem nicht angehen, ist aus Ihrer Sicht ja zu verstehen: Da muss man sich mit Lobbyisten anlegen, und es wird kurzfristig ökonomische Auseinandersetzungen geben.

(Zuruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])

Das mag alles lästig und schwierig sein; aber man muss doch dafür sorgen, dass die Probleme an der Wurzel angepackt werden. Wir sollten nicht nur dafür sorgen, dass es einen ordentlichen Bundeswehreinsatz in Mali gibt, sondern auch dafür, dass die einheimische Wirtschaft von Mali die Chance hat, zu funktionieren. Deswegen sollten wir aufhören, diese einheimische Wirtschaft mit subventionierten Produkten aus Europa, aus Deutschland und aus den USA kaputtzumachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – ­Volker Kauder [CDU/CSU]: Nieder mit den deutschen Bauern!)

Ein weiteres Beispiel. Schauen wir uns den Umgang mit Saudi-Arabien an. Navid Kermani hat uns darauf hingewiesen, dass das Lehrmaterial, das in Saudi-Arabien verwendet wird, und das Lehrmaterial, das bei ISIS verwendet wird – die haben sogar Schulen –, zu 95 Prozent identisch sind. In Saudi-Arabien wurden dieses Jahr schon mehr Menschen geköpft als im Territorium des sogenannten „Islamischen Staats“, den man, glaube ich, besser Da‘isch nennen sollte.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Saudi-Arabien ist das Zentrum des Wahhabismus, einer islamistischen Ideologie, die von der Ideologie der Terroristen kaum zu unterscheiden ist. Aus Saudi-Arabien wird nach allem, was man erkennen kann, ISIS finanziert. In Saudi-Arabien haben Frauen fast keine Rechte. In Saudi-Arabien ist das Ausüben anderer Religionen bei schwerster Strafe verboten. Menschenrechtler wie Badawi werden ausgepeitscht und zu barbarischen Strafen verurteilt. Saudi-Arabien exportiert diese fundamentalistische Ideologie in viele Länder. Saudi-Arabien führt im Jemen einen barbarischen Krieg mit vielen zivilen Toten.

Wenn man sich das anschaut – das ist einfach nur eine nüchterne Aufzählung –, dann müsste man doch denken: Das ist ein Land, auf das die Bundesregierung, auf das der demokratische Westen massiv Druck ausüben sollte, sein Verhalten zu ändern. – Aber was ist der Fall? Die Bundesregierung behandelt Saudi-Arabien als engsten Verbündeten, liefert dorthin Waffen und kauft dort billiges Öl. Wenn wir diese Politik nicht verändern, die nach diesem ganz alten und schlechten Muster „He may be a bastard, but he is our bastard“ funktioniert, dann werden wir nie in der Lage sein, die Probleme wirklich anzupacken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Als allerletzten Punkt schaue ich mir an, wie Sie Klimapolitik machen. Ja, Sie sprechen davon, dass wir das 2-Grad-Ziel einhalten müssen. Ja, wir wissen, dass wir das 2-Grad-Ziel einhalten müssen, dass wir es dringend einhalten müssen, weil sonst unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstört werden. Das sagt uns die gesamte Wissenschaft. Sie sagen es ja selbst, Frau Merkel. Wenn ich mir die Politik in der Bundesrepublik Deutschland anschaue, muss ich sagen: Es passiert viel zu wenig im Kampf gegen den Klimawandel in Deutschland. Wir geben jetzt 1,6 Milliarden Euro als Subventionen für die Braunkohle. Im Bereich des Verkehrs und der Mobilität passiert überhaupt nichts; das wundert einen vielleicht nicht bei diesem Minister. Im Bereich der Wärmedämmung kommen wir nicht voran.

Sie werden Ihre Ziele, die Sie sich in Ihrer ersten Koalition selbst gesetzt haben, ganz massiv verfehlen. Das alles geschieht in der Bundesrepublik Deutschland, der viertgrößten Industrienation. Es hilft doch nichts, wenn Sie auf den großen Konferenzen immer nur nett lächeln, sich feiern lassen, sich als Klimakanzlerin darstellen, und dann, wenn Sie nach Hause kommen, von Dekarbonisierung und Klimaschutz nichts mehr wissen wollen. Klimaschutz ist konkret. Klimaschutz fängt in den einzelnen Ländern an. Handeln Sie endlich! Sorgen Sie dafür, dass wir zu einer anderen Mobilität kommen, dass wir zu einer anderen Energieversorgung kommen und dass es endlich mit der Wärmedämmung vorangeht.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Oppermann das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6210695
Wahlperiode 18
Sitzung 139
Tagesordnungspunkt Einzelplan Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
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